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„Jaskula! Da ist sie ja! Oh, mein Kind, was machst du mir für Sorgen!“ Mit wehenden Haaren kam ihre Mutter auf sie zugelaufen. Sie war gerade erst eingetroffen, aber natürlich sofort auf Alarm geschaltet, als sie ihre Tochter nicht finden konnte.
Die beiden Lehrer riefen wie aus einem Mund und nahmen sie in die Arme:
„Da bist du ja! Welch ein Segen! Jaskula, wo warst du denn die ganze Zeit? Jeder dachte, du bist in der anderen Themen-gruppe, dabei warst du in keiner von beiden.“
„Ich hatte mich im Wald verlaufen, aber ich habe wieder zurückgefunden. Ich war hingefallen, aber es ist schon wieder verheilt.“ Dabei hielt sie ihr Knie als Beweis nach oben.
„Ha, und ein Wichtel hat dir die Hose wieder gestopft! Dass ich nicht lache!“, rief bereits erwähnter sommersprossiger Junge namens Kyr.
„Stimmt, genau so war es!“, sagte sie überrascht darüber, dass er das erraten hatte.
„Aber Jaskula, so schlimm kann es ja glücklicherweise nicht gewesen sein. Deine Hose ist ja heil, beziehungsweise geflickt und, ich muss schon sagen, du hast eine Mutter mit äußerst geschickten Händen“, und damit ließ Herr Sommerling Jasi stehen und wandte sich an alle:
„Nun, ihr Kinder, das war ein schöner Wandertag! Kommt alle gut nach Hause! Bis morgen um acht Uhr wie gewohnt in der Schule!“
Herr Sommerling und Frau Hafermann verabschiedeten weiter alle Kinder mit ihren abholenden Eltern, Großeltern.
Auch Frau Eisenschmidt-Huhn und Jaskula stiegen in ihr Auto und fuhren nach Hause. Ihre Wohnsiedlung lag nicht weit entfernt.
Im Auto überschüttete ihre Mutter sie mit Fragen:
„Geht es dir gut? Warum bist du so schweigsam? Wie kam es, dass du dich im Wald verlaufen hast? Ich bin so froh, dass du zurückgefunden hast…!“
Am liebsten hätte Jaskula geschwiegen und nachgedacht, denn so viele neue Eindrücke flatterten in ihrem Kopf.
„Ich habe Musik gehört, im Wald.“
„Musik?“, sagte ihre Mutter irritiert.
„Ja, Musik, Flötenmusik. In die Richtung bin ich dann gelaufen und bin hingefallen.“
„Ach“, kommentierte Frau Eisenschmidt-Huhn.
„Aber ich bin weich gefallen, weil mich Feen, Kobolde und Wichtel aufgefangen haben. Die Feen haben meine leicht aufgeschürften Hände und die Wunde am Knie gesäubert und geheilt und der Wichtel hat dann meine Hose geflickt“, erklärte Jasi wahrheitsgemäß.
„So.“ Ihre Mutter kam über die Einsilbigkeit nicht hinaus.
„Dann sind wir zur Waldfee und sie hat den bunten Folks aus dem Feenreich den Namen gutes Frau Holle Volk gegeben. Auf der ganzen Welt heißen sie Folks. Ich darf gern wiederkommen und dich mitbringen, oder wen ich will. Sie haben mich dann zum Parkplatz zurückgebracht“, schloss Jasi ihre kurzen Erläuterungen. Sie spürte, dass jedes weitere Wort von ihren neuen ätherischen Freunden ihre Mutter zu sehr vom Autofahren abgelenkt hätte und beließ es dabei. Der einzige Kommentar ihrer Mutter war:
„Hm.“
Jasi fühlte, dass sie ihr nicht glaubte und schwieg etwas unsicher und etwas enttäuscht.
Schweigen bis zu Hause. Ihre Mutter zog den Zünd-schlüssel des Autos heraus, drehte sich zu Jasi, nahm ihre linke Hand und sagte mit ernster Miene:
„Jasi, mein Schatz, das muss alles sehr aufregend für dich gewesen sein, so allein im Wald. Und ich danke von Herzen allen guten Geistern, die dich zurückgebracht haben. Aber Feen und ein Holle Folks wie auch immer, die gibt es nicht, nur in Märchen oder in Fantasy-Romanen und Computerspielen. Du hast eine wunderbare blühende Fantasie, vielleicht wirst du ja einmal eine große Künstlerin, aber hier auf der Erde gibt es solche Wesen nicht, glaub mir.“
„Aber, ich habe sie gesehen! Sie haben mit mir gesprochen und mir geholfen, sonst wäre ich jetzt nicht hier!“, antwortete Jasi verzweifelt.
Ihre Mutter sagte mahnend:
„Wenn du das anderen weitererzählst, werden dich alle so verspotten wie eben dein Schulfreund Kyr und das möchte ich nicht und du bestimmt auch nicht.“
„Aber…“, versuchte es Jasi noch einmal, doch ihre Mutter unterbrach sie sofort:
„Schluss mit aber! Wir haben noch einiges vor heute. Zuerst isst du etwas, dann geht’s zum Turnen, dann zum Einkaufen. Und ganz zuerst wäschst du dir dein Gesicht, das ist ja vollkommen mit Erde verschmiert.“
Der Ton erlaubte keine Widerrede und so stiegen sie aus. Jasi schmiss die Autotür hinter sich zu. Grummelnd ging sie ins Haus, hing wie ferngesteuert ihre Jacke auf und trottete traurig und enttäuscht zum Waschbecken und zum Esstisch.
Das hätte sie nicht von Mama gedacht. Papa würde sie davon erst recht nichts erzählen brauchen und ihr kleiner dummer Bruder Choi durfte nichts davon erfahren. Der hatte ja sowieso von nichts eine Ahnung und würde das Frau Holle Volk auch nur ärgern, wenn er es sehen könnte. Ha, in ihm steckte bestimmt ein kleiner Kobold, das täte so passen…
Naja, sie hatten ja gesagt, dass nur diejenigen sie sehen könnten, die in Liebe und Respekt ihr Herz für sie öffneten. Allein deshalb würde er sie auch niemals sehen können, dieser Töffel. Er war nämlich das gefühlloseste Wesen überhaupt. Mit seinen Freunden, zu denen auch der drei Jahre ältere nervige Kyr aus ihrer Klasse gehörte, hatte er schon Käfer, Maden, Raupen, Regenwürmer und Heuhüpfer gegrillt, um sie dann als Mutprobe zu essen. Denen ging sie grundsätzlich aus dem Weg.
Sie stocherte gedankenverloren in ihrem Essen herum. Nicht einmal der Kirsch-Joghurt schmeckte ihr heute, sondern sie stellte ihn in den Kühlschrank zurück. Eine halbe Stunde hatte sie noch, da wollte sie kurz hoch in ihr Zimmer und ihre Ruhe haben.
Als sie an der Garderobe vorbeischlurfte, hörte sie plötzlich ein bekanntes Stimmchen und mehrere aufgeregte Plings. Erschrocken sah sie nach und starrte in die großen blauen Augen von Simini in der Fellkapuze ihrer Winterjacke.
„Nein!“, stieß Jasi mit leicht aufkommender Panik und mindestens ebenso großen Augen aus. Rasch nahm sie ihre Jacke vom Haken und sprang die Treppe hoch in ihr Zimmer.
Sie legte die Jacke sorgsam auf ihr Bett und starrte wieder in die Kapuze.
Die Chamäleonfee räkelte sich entspannt, gähnte ausgiebig, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, blinzelte mit vielen Plings und sagte:
„In deiner Kapuze ist es soho gemütlich. Ein perfekter Schlafplatz! Hier schlafe ich jetzt immer. Aber wo, wo sind wir hier?“ Sie blickte sich irritiert um. „Wo ist der Wald?“
Sie richtete sich sogleich auf und ordnete nach Feenmanier an:
„Ich möchte zurück zum Wald! Bring mich sofort zurück!“
„Nein. Du bist nicht da! Es gibt dich nicht. Ich mache gar nichts“, antwortete Jasi und setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl.
Simini hüpfte aus der Kapuze und vergaß dabei, ihr felliges Kleid zu wechseln. Ihr Wurzelkleid hatte sie wohl im Wald zurückgelassen.
„Aber du hast mich hierhergebracht! Nun bring mich wieder zurück!“, forderte die selbstbewusste Fee weiter.
„Nein. Ich rede nicht mehr mit dir. Meine Mutter hat ge-sagt, es gibt euch nicht. Du bist nur in meiner Fantasie. Also lass mich jetzt in Ruhe!“, sagte Jasi mit trauriger Stimme.
„Wieso soll ich dich in Ruhe lassen, ich habe doch noch gar nichts gemacht?“, erscholl eine andere Stimme aus der Tür. Erschrocken drehte sie sich um und sah rasch auf ihr Bett. Keine Fee mehr zu sehen. Etwas erleichtert antwortete sie:
„Habe ich nur so gesagt, für den Fall…“
Wie ein Hund, der einen leckeren Braten witterte, folgte der schlanke, schlaksige Junge mit braunen zackig-gegelten Haaren, ihrem Blick auf die Bettdecke und ihre Jacke.
„Aha, du hast etwas versteckt!“, grinste er frohlockend und griff die Jacke, um darunter nachzusehen. Jasi blieb fast das Herz stehen. Auch wenn es sie ja nicht gab, trotzdem, sie hatte sie ja gesehen und sie wollte einfach nicht, dass ihr blöder Bruder irgendetwas bemerkte.
„Da ist nichts, das bildest du dir nur ein, und jetzt ver-schwinde aus meinem Zimmer!“, sagte sie gespielt barsch und schob ihn raus.
„Mir war, als hätte ich hier Musik gehört. Naja, das kriege ich schon noch raus, ich muss jetzt zum Fußball …“, grinste er weiter und drehte sich um.
Jasi schloss die Tür wieder. Mist, dass sie sie nicht ab-schließen konnte. Sie hörte ihren Bruder laut die Treppen hinunterspringen und atmete auf.
Sie sah auf ihre Jacke und sah niemanden mehr. Es war also doch ihre blühende Fantasie gewesen. Sie seufzte, setzte sich wieder auf ihren Stuhl und starrte aus dem Fenster.
„Jasi? Es gibt nur wenige, die uns sehen können, so wie du…“, sagte die Fee jetzt sehr mitfühlend, da sie merkte, dass die Situation nicht einfach für ihre Freundin war. Ihr Kleid hatte Farbe und Muster der Bettdecke angenommen, übrigens auch die Haare.
„Aber ich bilde mir das wohl nur ein… Wenn euch keiner sehen kann, dann kann ich es nicht einmal beweisen. Du siehst ja, wie mein blöder Bruder reagiert hat, der hat dich nicht gesehen…“
„Ich hatte meine Augen geschlossen“, meinte die Fee stolz.
„Egal!“, antwortete Jasi trotzig.
„Das sagt sonst nur Egal, der Pilzkobold…“, versuchte Simini das Mädchen aufzuheitern.
Jasi seufzte unglücklich:
„Ach lass das. Es bringt nichts. Es geht nicht. Ich darf nicht. Ich krieg sonst so viel Ärger überall…“
„Und er hat Musik gehört, das bedeutet, dass er auch eine leichte Gabe hat, uns zu bemerken. Manche nehmen unsere Anwesenheit als Glöckchenspiel wahr oder als Flötentöne, obwohl keine Musiker oder so in der Nähe sind… Du bist ja auch der Musik in den Wald gefolgt… Er ist vielleicht gar nicht so blöd…“, versuchte die Fee zu vermitteln, aber fehlgeschlagen:
„Mein Bruder ist und bleibt blöd. Und ich will jetzt an etwas anderes denken“, wehrte Jasi vehement ab.
„Ich weiß was: Du machst mit deinem Super-Handy einfach ein Foto von mir. Dann hast du einen Beweis und den kannst du überall zeigen. Auf einem Foto muss mich ja jeder sehen können, auch die, die mich direkt nicht sehen…“, hatte Simini eine blendende, nicht ganz uneigennützige Idee und schielte zu Jasis Tasche.
„Das ist eine blendende Idee, oder?“, ergänzte sie, sehr von sich begeistert.
„Gut“, sagte Jasi und kramte ihr Handy heraus. „Wir versuchen es.“
„Halt, halt! Ich muss mich noch schön zurechtmachen! Was ziehe ich nur an, was ziehe ich nur an, hm…?“, überlegte die Fee aufgeregt über ihren Fototermin. Schick fand sie das, sehr schick.
„Ich wollte schon immer mal fotografiert werden! Ist das schöhön!“
Sie drehte und wendete sich auf dem Bett, schwebte zum Schreibtisch, auf den Schrank, auf den Teppich, zu den Plüschtieren und wechselte dementsprechend ihr Kleid. Dann stand sie wieder ratlos auf dem Bett, was man an den leicht geknickten spitzen Ohren erkennen konnte.
Simi zuckte ihre Schultern:
„Das ist mir zu viel, ich kann mich nicht entscheiden.“ Sie war durch das schnelle Hin- und Herfliegen noch ganz bunt.
„Das muss jetzt aber schnell gehen. Meine Mutter bringt mich gleich zum Sport. Bleib einfach so stehen und zeig dein schönstes Lächeln. Wenn du getarnt bist, kann man dich sonst auf dem Foto gar nicht erkennen“, bemerkte Jasi mit einem Ohr zur Tür.
„Gut, dann bin ich jetzt soweit.“
Sie positionierte sich, brachte ihre zarten Flügel zum Leuchten und lächelte liebreizend. Pling.
Pling kam es von der Handykamera. Dann erwartungs-volles Fotoansehen. Stille.
„Du hast dich doch getarnt, ich kann dich gar nicht sehen“, bemerkte Jasi vorwurfsvoll.
„Nein, sieh doch, ich sehe immer noch bunt aus und nicht rosa-lila wie deine Decke…“, verteidigte sich die Fee. Sie vergaß völlig, beleidigt zu sein. Auf Vorwürfe reagierte eine Fee sonst immer mit beleidigt sein, oh, oh.
„Dann probieren wir es noch einmal. Dort, stell dich auf den Stuhl und bleib so bunt. Ich sehe es ja auf dem Display, bevor ich auslöse.“
Gesagt getan. Simini positionierte sich wieder, was ihr offensichtlich sehr viel Spaß bereitete. Pling.
„Gut so, ich sehe dich prima!“ Pling kam es von der Handykamera.
Wieder neugieriges Fotoansehen. Wieder Enttäuschung auf beiden Seiten.
„Du bist einfach nicht zu sehen! Wie kann das denn sein? Wir machen jetzt eine ganze Reihe von Fotos, überall in meinem Zimmer. Mit Blitz und ohne Blitz. Fünf Minuten habe ich noch, dann muss ich mich umziehen…“, meinte Jasi hoffnungsvoll. Und in kürzester Zeit schossen sie zehn weitere Fotos von den verschiedensten Standorten in ihrem Zimmer.
Aber – die Fee war einfach nirgends zu sehen. Nicht einmal andeutungsweise.
„Die Kamera kann dich nicht sehen…“, sagte Jasi traurig. Auch traurig, weil sie für sich selbst nun doch keinen Beweis hatte.
„Das ist sehr schade!“, bemerkte die Fee ebenso traurig, mit leicht hängenden Ohren und mit dem Mädchen mitfühlend.
„Wir haben Bilder von euch, die sind gezeichnet oder gemalt oder mit Computerprogrammen erstellt. Die sehen euch oft recht ähnlich. Aber Fotos habe ich noch nie gesehen. Es tut mir leid! Jetzt weiß ich auch nicht mehr weiter“, meinte Jasi entschuldigend und entmutigt.
„Sie malen uns, weil sie wohl auch festgestellt haben, dass man uns nicht fotografieren kann. Die Technik ist eben noch nicht soweit. Sie können unsere Frequenz noch nicht erfassen. Ihr könnt ja auch keine Träume fotografieren. Sieh es doch mal so: Da gibt es also noch andere Menschen, die uns sehen können, sonst würden wir uns in den Abbildungen nicht so sehr ähneln. Das ist doch schon ein Beweis! Wahrscheinlich helfen ihnen die Hauswichtel und führen ihre Hand beim Zeichnen.“
„Nein, das ist kein Beweis. Nur ein Beweis für die schöne Fantasie, die sie haben.“ Sehr traurig fügte Jasi noch hinzu: „Und die auch ich wohl habe…“
Simini ließ ihre Ohren nun gänzlich hängen, was einen überaus traurigen Anblick ergab.
„Ich muss mich jetzt zum Turnen umziehen und los. Wenn ich wieder heimkomme, dann werde ich ja sehen, ob du noch da bist oder ob du nur in meiner Fantasie lebst…“, sagte Jasi und zog sich um. Die Fee sah ihr vom Bett aus zu. Jasi hörte ihre Mutter rufen und zog rasch ihre Jacke an.
An der Zimmertür sah sie noch einmal in ihr Zimmer. Keine Fee war mehr zu sehen. Sie seufzte und ging.
Im Auto fiel kein Wort mehr über Frau Holles Volk. Der Sport verlief endlos lange und war das erste Mal tristlangweilig. Auch das Schnattern ihrer Freundinnen nervte sie heute ungewöhnlicher Weise.
Dann Einkaufen mit Mama, was gefühlte zehn Stunden dauerte. Alle Joker, die sonst zogen, wenn schlechte Laune angesagt war, versagten heute. Nein, eine Schoko-Milch wollte sie nicht, keinen Pudding, keinen Grießbrei, keinen Löcherkäse, keine Kinderwurst, kein Schokobrötchen, kein Ausnahmsweise-Eis und keine Limo. Die gab es ja auch nicht in blaugrün leuchtend und megasprudelnd.
An der Kasse jedoch, da stockte Jasi der Atem. Ihre Mutter sagte zu ihr:
„Jaskula, bist du jetzt immer noch beleidigt, nur, weil ich vorhin gesagt habe, dass es diese Feen, Kobolde und Wichtel nicht gibt, die du angeblich gesehen hast? Bis vor eurem Wandertag war das doch noch nie ein Thema, weshalb also jetzt so plötzlich? Komm, nun such‘ dir hier noch einen kleinen Naschi aus und die Welt ist wieder in Ordnung!“, versuchte Frau Eisenschmidt-Huhn ihre Tochter aufzu-muntern und hoffte insgeheim auf Unterstützung seitens der Kassiererin.
Jasi schmollte weiter vor sich hin. Frau Eisenschmidt-Huhn lud mit einem: „Tss, Mädchen und ihre Launen“, die Lebens-mittel auf das Laufband.
Da sprach die Frau hinter ihnen:
„Entschuldigen Sie, wenn ich dazu kurz etwas sagen dürfte?“
Jasi guckte bewusst weg, während Frau Eisenschmidt-Huhn freundlich antwortete:
„Ja, gern!“
Mit Sicherheit kam jetzt die erhoffte Unterstützung in diesem Thema.
„Ich habe eben ihre kurze Unterhaltung mitbekommen und freue mich sehr darüber. Es ist selten, dass heutzutage noch jemand die Gabe besitzt, wie ich das bei Ihrer Tochter vermuten darf, das Naturvölkchen wahrzunehmen. Die meisten haben es verlernt…“, erklärte sie freundlich und sah dabei auch Jasi an, die ihren Ohren kaum traute. Misstrauisch, aber auch neugierig beäugte sie diese Frau.
„Ha, das meinen Sie doch nicht im Ernst?“, zu mehr kam ihre Mutter nicht, denn sie waren an der Reihe.
Jetzt kommentierte die Kassiererin:
„Das ist doch ein Segen, dieses kleine Volk sehen zu können! Ich würde das auch liebend gern können.“
Jasis Mutter ärgerte sich innerlich, dass sie so unbedacht laut gesprochen hatte, eigentlich… wie gesagt…. Sie wollte ihrer Tochter doch diese Feenflusen ein für alle Mal aus dem Kopf treiben. Nun dies! Und dann wusste die Kassiererin eins weiter auch noch etwas dazu zu sagen:
„Vielleicht liegt das am Alter – mein Enkel hatte vor nicht langer Zeit auch einmal einen Wichtel gesehen, von dem er felsenfest behauptet hat, er würde bei ihnen im Garten wohnen. Er war der Einzige, der den Wichtel gesehen hat. Zwei Blumenfeen will er auch gesehen haben. Ist doch schön, wenn die Kinder noch diese unbedarfte Fantasie haben. Wenn man älter wird, verliert man sie leider. Schade drum. Es wäre doch viel schöner, wenn wir sie alle sehen könnten, das kleine Völkchen.“
Jetzt platzte es endgültig aus Jasi heraus:
„Frau Holles Volk, heißen sie, das gute Frau Holle Volk!“
„Meinetwegen, Frau Holles Volk, wenn du das so sagst… Sprich mal mit meinem Enkel. Ich glaube, ihr geht in die gleiche Klasse. Ich kenne deine Großeltern. Wir haben uns schon mal beim Abholen getroffen. Sehr nette Leute“, meinte die Kassiererin nebenan.
„Und wie heißt Ihr Enkel?“ wollte natürlich Jasis Mutter genauer wissen. Das war Jasi äußerst unangenehm, natürlich erst recht als sie den Namen hörte:
„Kyr, Kyr Frühling. Er hat blonde, wellige, schulterlange Haare, Sommersprossen und ist mittelgroß und sehr lebhaft, zu Hause jedenfalls.“ Dann kümmerte sich die Kassiererin nebenan um die nächsten Kunden.
„Und, kennst du ihn?“, bohrte ihre Mutter. Sie gab niemals Ruhe, Manno.
„Ja“, sagte Jasi bockig. Sie konnte es nicht glauben, ausge-rechnet der!
„Das hört sich ja alles wunderbar an. Wie alles wieder so zusammentrifft! Ich kenne ihn auch, denn er wohnt mit seinem Vater direkt neben unserem Haus!“, freute sich die Frau hinter ihnen. Mama bezahlte mit einem:
„Na so was, die Welt wird immer kleiner.“
‚Entsetzlich klein‘, dachte Jasi und die Frau hinter ihnen sagte noch freundlich:
„Wenn Sie möchten, schauen Sie doch bei uns einmal vorbei. Nach den Weihnachtsfeiertagen. Ich kann Ihnen und Ihrer Tochter zu diesem Thema viele interessante Dinge erzählen. Ich schreibe an einem Buch über sie, Frau Holles Volk, wie du es liebevoll nennst. Vielleicht können wir uns darüber austauschen. Ich werde Kyr bitten, auch dazu zu kommen. Er hat mir schon wertvolle Informationen gegeben und ist oft bei uns. Sein Vater arbeitet und er isst daher meist mittags bei uns, bei meinem Mann und mir. Wir haben selbst keine Kinder. Wir sind schon in Rente, aber ich verdiene mir durch das Schreiben noch ein bisserl dazu.“
Sie war wirklich freundlich, dachte Jasi und sie sah auch noch so freundlich aus. Sie war wohl so alt wie ihre Oma, vielleicht auch älter, aber irgendwie sahen ihre Augen noch viel jünger aus.
„Sie ist eine Fee!“, dachte sie bei sich und bekam spontan eine Hitzewallung vor Aufregung und schalt sich mit dem gleichen Atemzug innerlich ein verträumtes Mädchen.
„Ja, gern, meine Tochter wird sich darüber sehr freuen, und ich freue mich auch. Wir wissen, wo Kyr wohnt. Es sind von uns aus nur zwei Straßen weiter. Die Kinder haben früher alle zusammengespielt, aber jetzt kommt Kyr nur noch zu unserem Sohn Choi. Über die Computerspiele haben die beiden mehr gemeinsame Interessen als wohl mit Mädchen im gleichen Alter. Wenn es da so eine eingeschworene Feen-gemeinschaft gibt, dann will ich nicht dazwischenstehen, sondern bin auch, ehrlich gesagt, etwas neugierig…“
‚Oh je, Mama hört nicht auf mit diesem Reden, so peinlich. Gut, dass keine Klassenkameraden oder Freundinnen mit in der Schlange stehen‘, dachte Jasi genervt bei sich und blickte sich gehetzt um. Keiner da. Ein Glück.
„Fein, Bettina Beifuß ist mein Name und hier meine Visitenkarte. Rufen Sie mich gern an, wenn es passt. Wir sind zwischen Weihnachten und Silvester zu Hause. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie ein frohes Fest.“
Frau Eisenschmidt-Huhn verabschiedete sich freundlich:
„Ja, vielen Dank. Dann sind Ferien und wir haben viel Zeit. Wir melden uns bestimmt. Ihnen auch schöne Festtage.“
Bevor sie sich voneinander und von den Kassiererinnen verabschiedeten beugte sich die freundliche Frau Beifuß kurz zu Jasi und flüsterte ihr ins Ohr:
„Hübsch ist sie, deine Fee, sehr hübsch, dort, in deiner Kapuze.“ Laut sagte sie:
„Ich freue mich. Auf bald!“
Was noch gesagt wurde bis sie endlich im Auto saßen, hatte Jasi nicht mehr mitbekommen. Die Ereignisse seit dem Wald schienen sich zu überschlagen, jedenfalls was ihre Gefühls-welt anging.
Es gab doch noch andere, die sie sehen konnten! Da konnte es doch nicht nur ihre fantastische Einbildung sein, sondern sie gab es tatsächlich! Diese ältere Frau kannte sie und dann auch noch dieser sonst nur Quälgeist und nervige Angeber Kyr… und vielleicht ihr doofer Bruder…
„Tss, wer hätte das gedacht, kennt man sich um vier Ecken. Naja, für alles wird es plausible Erklärungen geben, ich bin gespannt“, sagte Frau Eisenschmidt-Huhn mehr zu sich und widmete sich ihren eigenen Gedanken. Ein Glück für Jasi.
Zu Hause ging Jasi rasch auf ihr Zimmer, mit der Jacke, ließ die Chamäleonfee aussteigen und hängte ihre Jacke wieder unten ordentlich auf, damit alles normal erschien.
Zurück im Zimmer meinte die Fee:
„Hast du gesehen, schneller als du dachtest, gibt es sogar Menschen ganz in deiner Nähe, die an unsere Existenz glauben. Ich bin ganz echt! Du bildest dir also überhaupt nichts ein. Aber ich würde jetzt doch gern wieder in den Wald und meinen Freunden Bescheid sagen – die können ja auch zu Frau Beifuß kommen. Können wir also jetzt endlich zum Wald zurück?“
Aus dem lieblichen Singsang konnte ganz rasch ein fordernder Ton werden, und wenn man nicht aufpasste ein beleidigter, oh, oh…
„Es ist schon dunkel draußen. Zu Fuß ist es zwar nicht wirklich weit, aber schon eine gute halbe Stunde. Mama wird das niemals erlauben. Wir wollen es morgen nach der Schule versuchen. Jetzt geht es wirklich nicht…“.
Die Fee zog eine kleine Schmolllippe und die Ohren zeigten bedenklich nach vorn. Jasi lenkte sie rasch ab:
„Wieso findest Du den Weg eigentlich nicht allein zurück? Ich denke, ihr seid alle miteinander verbunden und irgend-jemand wird dann schon wissen, wo du dich aufhältst und dich dann holen.“
„Das ist nicht so einfach. Zum einen war ich eingeschlafen und habe keine Markierungen hinterlassen. Zum anderen kann niemand erspürt werden, wenn er in einem metallischen Ding sitzt. Die große Älteste des Waldes kann mich außerdem nur dann orten, wenn ich bedroht werde, Angst habe oder mich irgendwie unwohl fühle. Das tu ich nicht. Also kann das lange dauern, ehe sie es merken. Und auf warten habe ich keine Lust.“
Die Schmolllippe kam und ging. Wahrscheinlich erkannte sie wohl, dass das Mädchen nichts für ihre eigene missliche Situation konnte und schon geholfen hätte, wenn sie gedurft hätte. Auch wenn es ursprünglich ihre Kapuze war, die sie zum Kuscheln eingeladen hatte.
Jasi versuchte, die kleine Fee zu ermutigen:
„Kannst du nicht ganz nach oben in die Luft fliegen und weit schauen? So kannst du sehen, wohin du fliegen musst. Oder du leuchtest noch dabei und dann können sie dich sehen. Sie werden dich bestimmt schon suchen!“
„Ich kann leider nur schwehen, also kurz über der Erde oder an einer Sache entlang schweben, also langsam fliegen. Auf diese Art schaffe ich es immerhin bis zu eurer Dachspitze und setze dort einen Leuchtpunkt, so, wie ich Leuchtpunkte draußen vor der Tür und beim Laden gesetzt habe.
Ich schwehe noch die Straße hoch bis zur nächsten Kreuzung und markiere auch dort, aber weiter will ich nicht weg, denn verfliegen möchte ich mich nicht. Wer weiß, wo ich da hinkomme und welchen Kreaturen ich begegne! Ich kenne zwar keine, nur aus den alten Geschichten. Außerdem bin ich schon ganz müde. Sobald es dunkel ist, schlafen die Tagfeen meist sofort. Dann stehen die Nachtfeen auf“, sagte sie, gähnte ausgiebig und streckte sich.
„Morgen bringen wir dich wieder zurück. Außerdem bin ich sicher, dass sie so eine nette und hübsche Fee wie dich bestimmt vermissen und bald suchen werden.“ Jasi hatte im Prinzip die Gefühlswelt der Feen verstanden. Sie waren leicht mit Schmeicheleien zu beeindrucken, und gesucht zu werden, das war überaus schmeichelhaft. Die Fee lächelte versonnen.
Jasi ging in die Küche und aß Abendbrot. Sie wollte Milch mit hochnehmen, durfte es aber nicht, nur Wasser. Da musste sie später nochmal heimlich runter. Kaum, dass sie in ihrem Zimmer war, stand auch schon ihr Bruder in der Tür, breit grinsend, mit einem Schälchen Milch in der Hand.
„Oh nein, Choi, nerv mich doch nicht schon wieder!“, sagte Jasi und wollte vor ihm die Tür zuwerfen.
„Ich habe auch noch einen Klacks Honig hinein…“, bemerkte er rasch und, haste nicht gesehen, war die Fee auf seinem Arm. Choi ließ vor Schreck alles fallen. Die Fee ließ sich dadurch nicht beirren. Kurzum schwebte sie zum Fußboden und schmatzte laut und genüsslich.
„Das, das, das ist ja eine Fee!“, kam es stotternd aus Choi heraus.
„Ja, glaubst du ich spinne?“, antwortete Jasi patzig, aber gleichermaßen beunruhigt, dass ihre Mutter das nicht mitbekam, jedenfalls nicht, solange die Fee Abendbrot aß. Denn jetzt war die Kleine so abgelenkt, dass sie jegliche Tarnung vergaß.
„Kyr hatte Recht! Ich hab‘s nicht geglaubt. Er hat es mir eben erzählt, dass seine Oma es ihm erzählt hat, dass du und dass seine Nachbarin im Laden, und ihre Kollegin auch, dass ihr alle mit den Feen und so“, mehr bekam er nicht heraus.
Im Wald hingegen war es ruhig und niemand suchte die kleine Chamäleonfee. Gerade sie war meist so stark getarnt, dass sie auch für das ätherische Volk unsichtbar war und so wurde sie noch nicht vermisst. Alle gingen davon aus, dass alle da waren, denn kein alarmierendes Zeichen war empfangen worden, auch nicht von der großen Ältesten des Waldes.
Das war auch nicht verwunderlich, denn Simini erging es bestens. So gut wie lange nicht mehr, so wohlgenährt und rundum wohlig schlief sie gleich nach dem üppigen Mahl mitten auf dem Kopfkissen von ihrer großen neuen Men-schenfreundin Jaskula.
Sie war perfekt getarnt und mit ihren geschlossenen Augen absolut unsichtbar. Jaskula schob das Kissen sehr vorsichtig zur Seite, denn sie wollte die Kleine nicht aufwecken. Sie konnte sich nämlich denken, wie schlecht gelaunt sie sein würde, wenn man sie störte. Das wäre sicher so gar nicht lustig gewesen. Jasi suchte ein kleines Kissen für sich und legte sich daneben. Als ihre Mutter zum Gute-Nacht-Sagen kam, erklärte sie, dass sie eben zwei Kissen brauchen würde und immer abwechselnd mal auf dem einen, mal auf dem anderen schliefe. Ihre Mutter schüttelte nur den Kopf und ließ ihr die neue Marotte nach diesem aufregenden Tag, von dem sie in Wirklichkeit nicht einmal die leiseste Ahnung hatte. Sie sah die Fee überhaupt nicht. Auch ihr Vater nicht. Nur Choi, dieser Nervi, schlich noch einmal zu ihr und sagte nur „süüüß“ und ein „Ich hätte so gern einen kleinen Kobold!“, und verschwand ungewohnt rücksichtsvoll leise in sein Zimmer.
Am nächsten Morgen zwackten die Geschwister heimlich Milch mit Honig ab und Jaskula schärfte Simini ein, dass sie ihr Zimmer nicht verlassen durfte, während sie in der Schule waren.
Dies klappte im Prinzip auch. Sie hatte immerhin das Haus nicht verlassen. Als Jaskula nachmittags von der Schule kam, kam Simini sofort auf sie zugeschweht und plapperte aufgeregt:
„Ich habe Kugeln gefunden, viele glänzende rote Kugeln. Sohoo schön! Solche Kugeln möchte ich auch haben. Die bringe ich meinen Freunden im Wald mit! Hast du eine große Tasche, dann können wir sie gleich reintun und sofort losgehen!“
Den Kommandoton mochte Jasi überhaupt nicht, auch wenn sie noch so niedlich dabei aussah. Sie ging aber freundlich auf die kleine Fee ein:
„Simini. Ich komme gerade erst in die Tür. Nun lass mich erst einmal was essen. Mein Vater arbeitet den ganzen Tag und kommt daher als Fahrer nicht in Frage. Meine Mutter kommt heute leider erst spät am Nachmittag wieder. Ich hoffe, es ist dann noch nicht dunkel und ich hoffe noch mehr, dass sie dann mit mir in den Wald fahren wird. Heute Morgen habe ich sie gefragt, aber sie klang nicht begeistert, zumal sie noch meinen blöden Bruder zum Klavier-Unterricht hin-bringen und auch wieder abholen muss. Der Wald liegt in genau der entgegengesetzten Richtung. Das ist zeitlich alles recht knapp. Aber ich will es versuchen, das verspreche ich dir. Die Kugeln allerdings, die kann ich dir nicht mitgeben, denn die sind für Weihnachten. Vielleicht eine Kugel…“
Das war zu viel für die kleine Fee, die mit dieser fetten glänzenden Beute vor den anderen im Wald glänzen wollte. Überhaupt lief nun alles nicht so ab, wie sie es sich gedacht hatte. Wütend flog sie in die Küche zum Küchentisch, die Ohren auf Sturm gelegt. Da entdeckte Jasi das Desaster. Sie bekam nur ein erschrockenes „Ohje“ heraus.
Der ganze Küchentisch war voller Zucker und auf dem Bo-den lag ein aufgeplatzter Milch-Tetrapack vermischt mit Zucker.
„Was hast du denn hier veranstaltet?“ Jaskula sah panisch auf die Uhr. Es dauerte zwar noch bis ihre Mutter kam, aber ihr Bruder würde gleich kommen und sie wollte nicht, dass…
Schon platzte ihr Bruder herein:
„Aber Hallo! Was hat unsere kleine bezaubernde Fee denn hier angestellt? Ha, haste eine Party gefeiert? Richtig so! Willkommen im Club! Clever ist sie ja, das muss ich sagen, sehr clever!“
„Ich dachte, du kommst erst nach der 8. nach Hause!“, begrüßte Jasi ihn vorwurfsvoll und genervt.
„Hatten früher Schluss, bin mit Tobi gebracht worden. Ist was für uns zum Essen da?“
Damit ging er zum Kühlschrank. Simini vergaß sofort ihre Entrüstung und bekam große Augen, als sie den Inhalt erspähte.
„Na, meine Hübsche, darf ich dir was Feines anbieten?“, fragte er sie augenzwinkernd.
Jasi hasste ihren Bruder dafür. Es war nur zu klar, dass Simini jetzt voll auf ihn abfuhr. So viele Schmeicheleien auf einmal. Das wirkte wie eine hohe Dosis Sahnetörtchen auf Feen.
Simini klatschte freudig in die Hände:
„Was ihr alles habt! Das habe ich in meinen schönsten Träumen noch nicht gesehen!“ Schwups schwehte sie im Kühlschrank von Regal zu Regal, schnupperte mit ihrer spitzen Nase in allen Packungen und Behältern und gab glucksende Kommentare ab. Ihre Ohren drehten sich vor Aufregung.
„Das hier riecht aber lecker, das möchte ich! Danach das hier. Und das. Das obere Fach ist ja verschlossen! Warum? Was ist da drinnen? Da ist bestimmt das Beste versteckt! Sicher ein lukullischer Schatz!“, trillerte sie vor Freude.
„Na klar doch! Ich zeig dir, was darin versteckt ist.“ Choi öffnete das Tiefkühlfach und sie erblickte das Eis-Sortiment der Familie Eisenschmidt.
„Ooh! Wie das riecht! Das will ich auch! Von allen vier Packungen will ich naschen! Wie schöhön ist das hier! Das ist ein wahres Paradiehies!“ Sie faltete die Hände vor Glückseligkeit, plingte in den höchsten Tönen, verdrehte ihre Augen und seufzte vor Wonne und einem Es-kaum-fassen-können aus tiefstem Herzen.
Bei diesem verzückenden Anblick vergaß Jasi all ihren Groll gegen die Fee, denn sie sah diese glückliche Fee und wollte fortan nichts Anderes mehr, als dass sie glücklich bliebe. Sie vergaß auch ihren Groll gegen ihren Bruder, denn sie erkannte, dass auch er nichts Anderes wollte als eine glückliche kleine Fee.
„Na, dann wollen wir gemeinsam essen. Wir laden dich ein, hübsche Freundin. Komm Choi, hilf mir beim Aufräumen und dann decken wir einen festlichen Tisch!“
Damit hatte sie beide im Boot.
Choi wischte den Boden. Jaskula schob den Zucker auf dem Tisch zusammen und füllte, was ging, in den Zuckertopf zurück und wischte alles sauber. Rasch sicherte sich die kleine Fee sicherheitshalber noch zwei Zuckerkörner bevor sämtliche Deckel wieder auf die Dosen kamen. Prompt wollte Simini eine Schmolllippe ziehen, doch Jaskula lenkte sie sogleich ab, da sie unweigerlich lachen musste, als sie die Kakao-Dose sah:
„Hier ist mein Lieblingspulver drin. Kakao. Ich glaube, auch du wirst ihn lieben!“
„Ja, ja, aufmachen! Wir machen ein Fest!“, flötete die Fee glücklich. Sie war so in ihrem Glück, dass sie vergessen hatte, muksch zu sein, weil Jaskula ja eine versteckte Andeutung gemacht hatte, von wegen aufräumen, was sie wohl angeblich verschmutzt haben sollte. Das hatte sie natürlich nicht getan. Sie hatte nur alles praktisch verteilt. Normalerweise wäre das ein Grund gewesen, die Beleidigte zu spielen. Feen waren ja soo sensibel… aber nicht heute! Denn jetzt öffnete Jaskula die Kakao-Dose und die Fee tauchte ihre spitze Nase in das Pulver.
Plötzlich ein lautes Niesen aus der Dose und eine riesige Kakaopulverwolke erfüllte Dose und Umgebung.
„Köstlich!“, kam es aus der Kakao-Wolke. Eine vollkom-men braun-bepulverte Fee schaute aus der Dose heraus und plinkerte mit ihren Augen. Sie sah aus wie eine braune Wolke mit blauen Augen. Welch ein glückliches Gesicht!
„Wir essen oder trinken den Kakao mit Milch und atmen ihn nicht ein! Wir zeigen es dir – komm, wir stellen alles hier auf den Tisch und geben dir einen eigenen Teller mit all deinen Leckereien und ein Glas für Milch mit Kakao.“
„Oh ja!“, rief die Fee, klatschte in die Hände, wobei wieder Kakao-Wolken umherschwebten.
Choi lachte:
„Die Wolken sehen aus, als hättest du kleine Kakao-pulverfeen neben dir!“ Gut, dass er nicht sie so angesprochen hatte. Man wusste ja nie.
„Die wären mir die liebsten Freundinnen!“, sagte sie und ergänzte rasch: „Nach euch beiden natürlich!“
Die kleine Fee wusste, was sich gehörte, außerdem war es einfach nur gut, sich solche Freunde zu bewahren, die wahre Schätze in kühlen Schränken aufbewahrten.
Sie deckten den Tisch und stellten der Fee einen Fondue-Teller mit vielen einzelnen Fächern hin. Diesen füllten sie mit dem letzten Stück Käsesahnetorte, dann etwas rote Grütze aus Waldbeeren, daneben Vanillesoße, Erdbeerjoghurt, Apfelmus und Vanillequark. Dann einen zweiten mit den vier Sorten Eis. In das Glas füllte Jaskula Milch und rührte Kakao hinein.
„Zur Feier des Tages gibt es frisch geschlagene Sahne! Wo ist das Handrührgerät, das Mama immer benutzt, weißt du das, Jass?“, rief Choi, der sich gleich an die Arbeit machte.
Er nannte sie immer Jass. Sie war überrascht, dass ihr einst dummer kleiner Bruder überhaupt wusste, dass und wie man Sahne steif schlug. Heute überraschte er sie nicht zum ersten Mal, zugegeben, angenehm. Aber lieber abwarten, nicht zu voreilig, denn kleine Brüder waren nun mal kleine Brüder. Sie reichte ihm das Handrührgerät. Er holte die Sahne aus dem Kühlschrank und füllte sie in die Rührschüssel. Die Fee verfolgte es mit wachsender Begeisterung. Sie hielt sich am Rand der Rührschüssel fest und beobachtete, was mit ihrer Lieblingsflüssigkeit geschah. Choi schaltete den Handrührer an. Schwups, ein Schrei, und die Fee wurde vom quirligen Wind des Rührgerätes weggepustet. Sie hielt sich am Wasser-hahn fest und fuchtelte und kreischte:
„Was ist das für ein Ungeheuer? Das ist ja schlimmer als aus den gruseligsten Geschichten der Kobolde! Schafft es fort! Schafft es sofohort fohort!“
Alles an ihr wehte inklusive der Ohren, die aerodynamisch nach hinten standen.
‚Sportliche Ohren‘, dachte Choi, sagte es aber nicht und schaltete sofort das Gerät ab. Völlig zerzaust und fluchend flog sie zu Choi und stützte ihre Hände demonstrativ auf die Hüften. Gerade holte sie Luft, um ein Donnerwetter los-zuwerden, die Ohren auf Angriff gestellt, da beschwichtigte sie Choi ganz schnell:
„Oh entschuldige vielmals, dass ich dich nicht an einen ge-schützten Ort gebracht habe. Feen sind neu hier im Haus und wir kennen die Besonderheiten noch nicht so gut. Aber, geschätzte Fee, die Sahne, die ich hier mit diesem Ungeheuer steif schlage, wird dir so sehr schmecken, dass du dieses Ungeheuer gleich deinen besten Freund nennen wirst!“
Jaskula grinste:
„Komm hier auf den Tisch zu mir, Simini. Von hier aus ist es gänzlich ungefährlich, für uns beide. Denn es kann auch sein, dass Sahne durch die Gegend gewirbelt wird, wenn man die Rührer nicht richtig in die Schüssel hält. Hier ist es in jedem Fall sicher. Choi, du überraschst mich immer mehr! Durch Simini kommen ganz neue charmante Züge hervor, die ich an dir zuvor noch nihie gesehen habe!“
Choi grinste und schlug nun die Sahne steif während Jaskula die empfindlichen Ohren der Fee zuhielt. So viel Auf
merksamkeit, das gefiel ihr. Sie fühlte sich immer wohler hier. Und dann dieses Festmahl!
Choi verteilte auf jede Kugel Eis einen Klacks Sahne und gab zur Krönung Schokostreusel obenauf.
Die kleine Fee war begeistert. Sie umflog ihre Teller in einer Tour und flötete und trillerte Lieder der Entzückung.
„Komm, dir wird sonst noch ganz schwindelig bevor du genascht hast!“, rief Choi sie zur Ruhe. Sie war wirklich sehr abgelenkt, denn sie war wieder nicht beleidigt, obgleich sie soeben ermahnt wor-den war, was sie nor-malerweise empört hätte. Ein ganz besonderer Tag.
„Heute ist ein ganz besonders schöner Tag! Ein richtiger Festtag!“, rief sie, setzte sich an den Rand des Eistellers und bohrte ihren spitzen Zeigefinder in die Sahne. Ab diesem Zeitpunkt hörten die anderen beiden sie nur noch wohlig stöh-nen und schmatzen, und zwar ununterbrochen.
So fein Feen den Anschein machten, aber beim Essen veranstalteten sie eine unglaubliche Schweinerei. Jedenfalls Simini. Als Chamäleonfee verwandelte sie sich jetzt ganz nach dem Essen, das sie gerade befingerte. Momentan sah sie aus wie eine Kugel Erdbeereis mit einer Sahnemütze und Streu-seln auf dem Hut.
Sie war wirklich oberglücklich.
Choi und Jasi hatten sich in der Mikrowelle die von ihrer Mutter vorbereiteten Spaghetti Bolognese aufgewärmt und nahmen sich noch Salat dazu, was Simini lediglich mit einem kurzen bedauernden Blick und einem: „Ich bin doch kein Blätterkobold!“ kommentierte.
Sie stocherte genüsslich in ihrem Essen herum und leckte wohlig schmatzend ihre Finger ab. Die beiden Geschwister waren längst schon fertig, aber es war immer noch genug Zeit bis ihre Mutter heimkam.
Jasi meinte:
„Ich will dir erklären, was es mit den Weihnachtsbaum-Kugeln auf sich hat. Dann wirst du verstehen, dass ich sie dir nicht alle mitgeben kann.“
„Hm, mh!“, kam es nur von der Fee, die gerade ihren rechten und linken Zeigefinger abwechselnd in die rote Grütze und die Vanillesoße tunkte und abschleckte.
„Also, wir schmücken zu Weihnachten unsere Tannen-bäume. Das ist ein alter Brauch, denn früher schon haben die Menschen zur dunklen Jahreszeit, wo alles Leben wie tot schien, die immergrünen Pflanzen verehrt, weil diese zeigten, dass das Leben immer weiterging und gaben damit Hoff-nung.“
„Das weiß ich doch lähängst!“, schmatzte die Fee ihren Kommentar dazu.
„Unsere Art, diese immergrünen Pflanzen zu ehren, ist, sie zu schmücken. Viele schmücken die Tannenbäume bunt, aber Mama hat rote Kugeln, weil sie sagt, dass diese für die roten Äpfel stehen. Rote Äpfel drücken am besten die Lebenskraft aus, meint sie. Dann haben wir einen Stern an der Spitze und viele Strohsterne, die die Sonnenkraft ausdrücken…“
Wieder mit vollem Mund unterbrach die Fee:
„Ist doch klar, die immergrünen Pflanzen zeigen uns im Winter, dass der Jahreskreis des Lebens sich immer weiter-dreht, auch wenn die Natur in dieser Zeit größtenteils schläft.“ Sie wischte sich ihren Mund an einer Serviette ab, nicht mehr an ihrem Ärmel wie anfangs. Sie hatte sich das offensichtlich bei den beiden Kindern abgeguckt, denn sie war ja lernfähig – wenn sie es wollte, klar.
„Apropos schläft – ich bin jetzt sehr, sehr müde, und wenn ich das sage, dann meine ich auch sofohort.“
So sprach sie und legte sich prompt auf die Serviette. Sie rollte sich ein und schlief in der nächsten Sekunde tief und fest und überaus glücklich und zufrieden.
Beide Kinder standen da, schüttelten den Kopf und beobachteten dieses kleine friedliche Bild.
Dann nickten sie sich zu. Jasi hob die kleine Fee sachte mitsamt der Serviette vom Tisch und trug sie in ihr Zimmer. Auf dem Kissen wachte sie noch einmal kurz auf und murmelte schlaftrunken aus dem Traumreich:
„Morgen, morgen will ich den Weihnachtsbaum mit euch schmücken.“
Jasi antwortete leise:
„Das machen wir drei zusammen. Morgen müssen wir nicht mehr in die Schule. Morgen sind Weihnachtsferien.“
Zufrieden rollte die Fee sich auf ihrem Lieblingskissen ein und schlief unaufweckbar tief.
In der Küche sagte Jasi zu Choi während sie einmal wieder aufräumten:
„Ich habe das Gefühl, dass sie sich hier sehr wohl fühlt und erst einmal bei uns bleiben wird. Wir sagen es niemandem von der Schule, versprochen?“
„Versprochen. Außer Kyr, der weiß es ja schon und nervt ordentlich, dass er rumkommen will, um sie zu sehen. Ich habe ihm versprochen, dass ich ihm Bescheid sage, wenn die Zeit günstig ist. Er verrät garantiert nichts, denn er kennt das Problem bereits wegen seines Wichtels. Sein Vater wollte ihn schon zum Psychiater schleifen. Seitdem schweigt er über das Thema und freut sich leise und unauffällig, wenn er ihn sieht. Immer, wenn ich bei Kyr bin, ist der Wichtel leider ver-schwunden. Zwei Blumenfeen sollen sich auch in ihrem Garten aufhalten. Ich habe sie noch nie gesehen und auch nicht geglaubt, dass sie existieren und auch nicht, dass ich sie überhaupt sehen kann – bis heute. Bis du dieses zauberhafte Wesen hier angeschleppt hast. Das war eine große Nummer, Jass! Unseren Eltern entgeht richtig viel. Schade für sie! Ich fühle mich mit einem Mal als hätte ich ‘ne Million gewonnen; irgendwie plötzlich so reich!“, erklärte er aufrichtig.
„Ja, da hast du recht! Es ist irgendwie, als würden Wirk-lichkeit und Traum sich vermischen. Es existieren auf unserer Erde quasi zwei Welten parallel nebeneinander und miteinander. Unsere sichtbare Welt ist die eine Welt und die vermischt sich mit ihrer, der Welt der Folks. Und wir können beides erleben, Brüderchen! Ist das nicht unfassbar cool?
Sie haben mir erklärt, dass wir über unsere Liebe zur Natur quasi unsere interne 3D-Folks-App oder unsere unsichtbare Holle-Brille aktivieren und somit die viel feineren Frequenzen ihrer Welt erkennen können. Und genau deswegen können wir das Frau Holle Volk sehen. Genauer: das gute Frau Holle Volk oder auch kurz: die Folks, ihr übergeordnete Name weltweit. So heißen sie nämlich seit heute offiziell im Feenreich von Frau Holle, der großen Erdmutter, die den hochheiligen Plan der Natur hütet und darauf achtet, dass alle Wesen, ob sichtbar oder ätherisch, nach diesem Plan leben…“
So erzählte Jasi von ihren Erlebnissen im Wald. Choi hing an ihren Lippen und war völlig berauscht. Als sie ihre Mutter ins Haus kommen hörten liefen die Kinder beide schnell in ihre eigenen Zimmer, damit sie sich nicht gleich wunderte. Choi wurde zum Klavierunterricht gebracht und als er wiederkam, schaute er sofort ganz leise in Jasis Zimmer. Die kleine Fee schlief noch. Das waren bestimmt die vielen neuen Eindrücke. Außerdem war sowieso Winterzeit, wo die meis-ten aus dem Feenreich schliefen oder eben sehr viel schliefen, wie Jasi erklärt hatte.
Etwas verwundert war ihre Mutter doch, dass sie heute beide sehr ungewöhnlich wenig Lust zum allabendlichen Fernsehen hatten. Sie schienen sogar fast widerwillig davor zu hocken, und dann wechselten sie sich auch noch jede halbe Stunde ab. Das war ansonsten die einzige Zeit, in der Friede-Freude-Eierkuchen zwischen den beiden herrschte. Sie dachte sich, dass sie sich wohl gestritten hatten und daher aus dem Weg gingen. Auf ihr Nachfragen, was denn mit ihnen los war, hörte sie nämlich nur ein belangloses und leicht ge-nervtes:
„Nichts ist los, was soll denn los sein?“
Im Wald schliefen wieder alle. Niemand vermisste die Fee. Die Stimmung am Abend war gut wie immer. Jetzt im Winter war im Wald zur Nacht nur eine Nachtfee unterwegs, die nach dem Rechten sah und den Wichteln half, die nachts arbeiteten. Sie zeigte auf die Stellen, wo Nüsse, Kastanien, Bucheckern und Eicheln vergraben worden waren, damit die Wichtel sie für die derzeitigen nachtaktiven Waldtiere aus-graben konnten. Heute waren drei Wildschweine unterwegs. So waren es Eicheln, die auf dem Speiseplan standen und dementsprechend in Position gelegt wurden. Natürlich wur-den nicht alle ausgegraben. Die Wildschweine liebten es besonders, in der Erde zu wühlen. Sie war ja glücklicherweise noch nicht gefroren und ließ sich gut durchforsten.
Simini schlief durch bis zum frühen Morgen. Zu früh für Jasi. Um sechs Uhr war die Chamäleonfee wach und putz-munter:
„Ich habe einen Bärenhunger!“, war die süße Begrüßungs-ansage, die sie in Jasis Ohr flötete. Jasi erschrak und saß fast senkrecht. Das ignorierte die kleine Fee und trällerte fröhlich weiter:
„Hunger, Hunger habe ich – jehetzt! Ich will sofohort in die Küche!“
Oh, das konnte ja was werden! Jasi war nie gut gelaunt, wenn sie unsanft geweckt und dann noch herumkommandiert wurde.
„Ja, ja, gleiheich“, sagte sie etwas muffelig, setzte sich langsam richtig auf, rieb sich den hartnäckigen Schlaf aus den Augen und zog ihre Puschen an.
„Ich fliege zu Choi und wecke ihn, damit wir wieder ein Festmahl einnehmen können. Er muss rasch die Sahne mit meinem Lieblingsungeheuer schlagen“, forderte sie weiter und wollte schon losfliegen.
...