Wir brauchen nicht nach dem Paradies zu suchen - wir leben darauf! Auch, wenn der Mensch dabei ist, samt Paradies gegen die Wand zu fahren, höre ich nicht auf, immer wieder das Gute in ihm zu sehen. Das, was Mensch ausmacht, jenes Potenzial in ihm zu wecken, um aus den Fehlern zu lernen und nach Glück, Harmonie und Liebe zu streben.
Die Zukunft ist es wert – Paradies 2.0.
Für unsere Kinder und die nächsten sieben Generationen.
Ersterscheinung 2022
Text: Copyright ©Aina Koregard
Illustration Cover und Karte: Copyright ©Sandra Gleisberg
Das komplette Werk GAIA NOVA in drei Bänden ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, auch die der auszugsweisen Vervielfältigung, gleich durch welche Medien, sowie der Übersetzung.
Ich danke der Förderung durch die Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), von NEUSTART KULTUR und die VG WORT. Die Veröffentlichung des kompletten Werkes GAIA NOVA in drei Bänden konnte durch die mithilfe des Stipendiums der VG WORT im Rahmen von NEUSTART KULTUR erfolgen.
ER wachte auf. So wie immer.
Und stellte die Uhr ab. So wie immer.
Er stand auf. So wie immer.
Im Dunkeln schlurfte er zum Bad. Er kannte blind jeden Schritt und jeden Griff. Licht an. Augen zugekniffen.
Blick in den diffusen Spiegel.
Blöder Traum. Was sollte das nur immer? Die Kluft. Warum war er nicht gesprungen? Naja, wenn er ehrlich zu sich war, auch in wachem Zustand wäre er nicht gesprungen. ER war immer noch wie gelähmt und ärgerte sich darüber. Über sich selbst. So fing jeder Tag an.
„Tollen Morgen, Sweetie!“, trillerte seine bezaubernde Freundin, Lebensgefährtin. Natürlich, wie immer, schon pikobello herausgeputzt nach Werbebranchen-Art. Haare streng zurück, knalliger Lippenstift, dunkelblauer Anzug und Sportschuhe, der ach so freche anti-modische Akzent, über den sich dann alle Werbestuten in der Agentur das Maul zerrissen. Frech sein war In!
„Das kommt vom langen Schreiben, dann arbeitet man auch im Schlaf weiter. Kennen unsere Texter auch“, schnurrte sie spitz.
„Völliger Quatsch! Du bist noch später ins Bett und früher aufgestanden als ich. An Schlafmangel kann es ja wohl nicht liegen“, antwortete er schlecht gelaunt. Er hasste es, wenn sie morgens fröhlich war. Vor allem dieses Daherreden.
„Sweetie… Du weißt doch, dass die Kickoffs immer bis weit nach Mitternacht gehen. Es war ein überaus erfolgreiches Event. Wichtige Kontakte. Gleich heute Früh geht es weiter mit der Präsentation für eine neue Beauty-Serie. Ich hoffe, unsere beiden Volontäre haben die 30 PowerPoint-Seiten ansprechend vorbereitet, wie ich es ihnen vorgescribbelt habe“, flötete sie weiter und drängelte ihn vom Spiegel weg, um eine zu freche Haarsträhne in die Haarspange zu verbannen.
Er wusste gar nicht, worauf er zuerst reagieren sollte. Zu mindestens fünf Punkten hätte er etwas entgegenzusteuern, aber morgens war nicht seine Zeit. Überhaupt gab es momentan keine Zeit, die wirklich seine Zeit war. Schon gar nicht mit einer vor Selbstbewusstsein und Übermotiviertheit strotzenden Partnerin.
Ihr Anblick lähmte ihn wie die Kluft in seinem Traum. Die ganze Welt, ja, das ganze Leben schien ihm wie diese Kluft, wie ihr Anblick.
Frustriert setzte er sich aufs Klo und erhielt prompt einen Schmatz von seinem Schatz auf die Wange gedrückt. Dann zog sie auch noch ab, während er drauf saß und verschwand rasch mit einem „Frech sein ist IN, Sweetie!“ aus der Haustür.
Im Hintergrund dudelte Bob Dylans „Times they are a changing“…
Er seufzte.
Der Morgenspuk war zu Ende. Aber der Tag leider noch lange nicht.
Bäcker. Stau zur Agentur. Zu spät im Büro. Endloser Flur, in dem sonst nie jemand erschien, außer man kam zu spät.
„Auch eine Leitung hat eine Kernarbeitszeit, ER“, lautete die Begrüßung des selbsternannten Chiefs, alias Chief Creative Officer. Media and Innovation Services in Milon, kurz: MAIS Milon, hatte zwei Kreation-Abteilungen, Kreation Young und Matura. Willi Schnurz war der Creative Director von Kreation Young, welche die Interessen der jüngeren Bevölkerung der Stadt einfing und kreativ gebündelt über die Szene.Card an sie zurückgab. Er betitelte sich immer abwechselnd Chief oder CCO, weil es hipper war, meinte er, und weil er sich von ER abheben wollte. Natürlich lächerlich, merkte er aber nicht. Sie waren absolut gleichrangig. ER war ebenfalls Creative Director, nur von Kreation Matura, der Kreativ-Abteilung, deren Zielgruppe die aktiven Silberhaare der Stadt waren. Ein absoluter Schnösel, dieser Willi Schnurz. ER nannte ihn nie Chief oder CCO, war klar. Dieser Möchtegern hatte heute mal wieder auf ihn gelauert und feixte sich jetzt einen.
Endlich, sein Büro, das vorletzte im endlosen Gang. Transparenz hieß das neue Schlagwort. Von MAIS Gujaland aus der Hauptstadt Fachim angeordnet. Neuester CD/CI-Tick. Die Kosten mussten natürlich die Agenturen selbst tragen. Kein Wirtschaftsplan vertrug das. Transparenz konsequent, gläserne Wände, gläserner Mensch. Nun gut, also überall transparente Baustellen. Mauern weg – Glas hin. ERs Büro war noch das alte. Es roch auch so. Jahrzehnte alter Agenturenmief. Er hasste es, wollte es aber auch nicht anders und ärgerte sich wieder über sich selbst.
„Moin ER! Du gockst aber wieder beömmelt ausser Wäsche!“ Wieder so ein Gutgelaunter. Als wären die alle morgens schon bekifft.
„Haaallo! Chöffchen, so kann das doch nicht weitergehn. Komm mal raus aus deiner Schwermut. Heute ist Präsentation des Wörtschaftsplanes fürs nächste Jahr! Da musst du strahlen vor Enthusöasmus und Öberzeugung! Noch geben wir nicht auf! Die Zahlen sprechen für uns!“, munterte Chrischi ihn auf und gab ihm einen kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter. ER verzog sich sicherheitshalber rasch auf seinen unerreichbaren Platz hinter dem Schreibtisch. Durchatmen. Na also: ER zog seine berühmte Augenbraue hoch und legte ein Grinsen auf.
„Na klar, alles klar! Hatte gestern Abend noch eine schöne Statistik zu den Kontaktzahlen beigefügt. Wir hatten die Follower der Influencer vergessen. Sieht wirklich gut aus für uns. Ich hole euch in einer halben Stunde ab, dann gehen wir gemeinsam in die Höhle des Löwen. Sag Alessa, wir brauchen fünf Kopien insgesamt.“ Und mit einem unzweideutigen doppelten Augenbrauen Liften beförderte ER seinen Assistenten und Grafiker nach draußen.
Funktionieren konnte er, ER, alias Emil Richter, E.R., ER. Alle nannten ihn so. Stimmte nicht, seine Freundin nannte ihn Sweetie und seine Tochter aus seiner ersten Beziehung, 26, Modedesignstudentin im Master, nannte ihn Dad, weil Papa uncool war, sie in Donlon studierte und zudem ein Auslandsjahr in Kappland verbracht hatte. Also waren es zwei.
Funktionieren, fremdbestimmt, ja, das hatte er gelernt, sein Leben lang. Nur seit einem Jahr war ihm, als würde seine Batterie immer schwächer werden. Oft war er einfach morgens nur unter großen inneren Anstrengungen imstande, den Tagesanfang in den Griff zu kriegen. Dabei lag doch bekanntlich alles Gold in der Morgenstund. Bei ihm war es Blei. Und das war Gift für den Körper. Und die Seele. Was war er für ein Mann, wenn er nur allerhöchstens auf halber Kraft arbeiten konnte? Wenn er nach außen den Manager heraushängen ließ und nach innen einfach keinen Bock auf all das mehr hatte? Auf nichts, nicht mal aufs Schreiben.
Ausgebrannt. Ausgezehrt.
Nur wovon?
Lief doch alles.
Da war noch so viel mehr drin, aber wofür? Allein der Gedanke, irgendetwas für irgendwen tun zu müssen, schien ihm oft unerträglich und wurde immer unerträglicher. Dieses ewige Fordern, es zog und zerrte an ihm und widerte ihn an. Die innere Abwehr wurde immer schmerzlicher. Es zerriss ihn und zog ihn runter.
„Mach mal was für dich“, meinte neulich seine coole Freundin. „Natürlich erst, wenn du die Wäsche aufgehängt hast. Ich schaffe es nicht mehr und muss los.“ Und abends dann: „Noch nicht einmal die Spülmaschine hast du ausgeräumt! Statt trübselig herumzusitzen kannst du ja mal etwas Gescheites tun. Das Brot ist auch das falsche. Du weißt doch, dass ich kein Weizenbrot esse und das hier riecht schon nach Pappe.“ Klatsch, hatte sie das Brot ins Fach zurückgeschmissen. Oder am Morgen davor:
„Wie siehst du eigentlich aus? So willst du euer Kultur-in-Milon Projekt vertreten? Na, wenn ich dasäße, und es käme einer mit dem allerletzten Sakko aus dem allerletzten Jahrtausend, hätte der so gar keine Chance bei mir. Komm, zieh dir das dunkelblaue Sakko über. Und die blauen Socken. Naja, das hellblaue Hemd mit den Streifen ist besser und wenn du schon dabei bist, auch die dunkelblaue Jeans, nicht diese ausgewaschene…“
„Lass mich! Kümmer dich um dich!“, das sind die Kommentare, die er ihr üblicherweise als Abwehr barsch entgegenschleuderte.
In welchen beengenden Mustern hing er fest? Wie war er da nur hineingeraten? Mit einem Mal, eines Morgens, da war die Luft raus und sein Selbstbewusstsein war in der Grütze. Das überlebte er nur mit barscher Abwehr. Wer konnte ihn da schon verstehen? Er verstand sich selbst ja am allerwenigsten.
Kein Kontakt zu seiner Ex. Aber zu seinem Töchterchen. Aber die musste ja in Donlon studieren. Ist wohl besser so. Sie würde es mit ihm auch nicht lange ertragen. Mit ihm war nicht mehr viel los.
Er bremste sich in allem selbst aus, egal was er anfing.
„Lass dich mal untersuchen. Vielleicht hast du ja irgendwas. Vielleicht hast du ja Krebs oder so“, war gestern Morgen die letzte Bemerkung seiner hippen Freundin. Heute Morgen war sie wieder zuckersüß. Ach, er wünschte, sie sollte einfach mal ihre Klappe halten. Still. Einfach mal an einem Morgen nix sagen. Ja.
Er lächelte bei dem Gedanken, sah auf die Uhr, schnappte seine Tablet-Mappe und zog los. In die Höhle des Löwen.
Gut, dass da noch Chrischi und Alessa zur Präsentation des Wirtschaftsplanes mitkamen. Sie waren schon ein tolles Team. Ein kleines Team von fünf Festangestellten, davon drei ganztags und zwei halbtags, die studentischen Hilfskräfte und die beiden Praktikanten mitgerechnet noch neun dazu, zurzeit.
Der Wasserkopf von allem war Media and Innovation Services MAIS, vertreten in weltweit 54 Ländern mit insgesamt 179 Agenturen in allen wichtigsten Städten, Tendenz steigend. MAIS Milon war eine von sieben Töchtern von Media and Innovation Services MAIS Gujaland, Zentrale des hiesigen Landes Gujaland mit Sitz in der Hauptstadt.
Alle saßen schon: Leiterin der PR MAIS Gujaland, ihr Assistent PR MAIS Gujaland, Geschäftsführer MAIS Milon, der allerdings in knapp zwei Wochen die Geschäftsführung einer anderen MAIS-Tochter übernehmen sollte, Nachfolger noch unbekannt, Assistent GF MAIS Milon, Creative Director Kreation Young MAIS Milon… Warum der in dieser Runde erschien wusste keiner, Leitung Marketing MAIS Milon, Assistentin Marketing, und… Ihm stockte kurz der Atem, denn er ahnte Schlimmes…
„Moin ER! Darf ich vorstellen, Herr Dr. Schwarzenegger, externer Berater des Vorstandes von MAIS Gujaland in unserer Hauptstadt Fachim. Er wird unser Projekt verfolgen und begutachten und uns mit seinem erfahrenen Rat zur Seite stehen. Und, Herr Dr. Schwarzenegger, darf ich Ihnen…“
Michaela Erhard, Leiterin Marketing MAIS Milon, wollte gerade das Team von Kreation Matura vorstellen, da hob er die Hand und schüttelte grinsend den Kopf.
„Nicht nötig, Michi, der Herr ist mir bekannt. Das ganze Team ist mir bekannt. Guten Morgen, Herr Richter. Kommen wir gleich zur Sache. Wie sind die brandaktuellen Ist-Zahlen?“, forderte der externe Berater mit einem kalten spitzen Ton.
Noch einer, der ihn nicht mir ER anredete. ER ließ sich seine unangenehme Überraschung nicht anmerken und reagierte im Funktions-Modus spontan sachlich:
„Die durchaus aussagekräftigen Basiszahlen im Plan sind die von vor einer Woche, auf deren Grundlage wir den Wirtschaftsplan aufgestellt haben. Es gibt seither keine nennenswerten Veränderungen. Die Zahlen werden wir Ihnen in der heutigen Sitzung im Wirtschaftsplan vorstellen.“
Giftige Stille.
„Ist das so?“
„Ja. Wir können Ihnen jetzt, wie verabredet, die errechneten Prognosen für das kommende…“, weiter kam er nicht.
„Herr Richter. Die IST-Zahlen sind die Basis! IST ist heute, nicht vor einer Woche oder sonst wann. Das dürfte Ihnen doch bekannt sein. Wenn nicht Ihnen, so doch Ihrer charmanten Begleiterin Frau Schimmelreiter, die sich doch bestens in Sachen Statistiken auskennt, oder schätze ich Sie da falsch ein, Frau Schimmelreiter?“ Angriffswechsel.
„Frau Schimmelreiter…“, weiter kam ER nicht.
„Frau Schimmelreiter!“, unterbrach der Externe knallhart.
Alessa hatte es fast die Sprache verschlagen. Sie räusperte sich, was den Externen zu amüsieren schien. Da war es, für eine Sekunde war das der kleine Junge, der einem Mädchen eine Spinne in den Pullover gesteckt hatte. In der nächsten Sekunde wieder Eisesblick.
„Ja, also, wir haben die Ist-Zahlen, jedoch nicht hier, weil wir…“, weiter kam sie nicht.
„Tss. Sie enttäuschen mich aber, Frau Schimmelreiter. Die Zahlen sind doch Ihr Revier. Die müssten doch nur so aus Ihnen heraussprudeln, auch ohne Ausdrucke. Jeden Tag müssten Sie die aktuellen Zahlen kennen. Nur so kann gewirtschaftet werden. Nur so! Alles Kreativen-Geschnurre nutzt nichts ohne Zahlen! Sie brauche ich erst gar nicht zu fragen, Christian Sommerschild. Sie sind ja erst ein halbes Jahr im Unternehmen und haben als Grafiker keine Ahnung über Größe und Umfang von MAIS und noch weniger Ahnung von der Winzigkeit dieses Kultur-in-Milon Projekts für Ruheständler, das jedes Jahr aufs Neue in den Ohren von Milon hängt und um Verlängerung bettelt.“
„Herr Dr. Schwarzenegger. Meine Mitarbeiter…“, weiter kam ER nicht.
„Das ist sehr ehrenhaft, Herr Richter, dass Sie sich vor Ihre Mitarbeiter stellen wollen, aber ein Mitarbeiter ist erst ein starker Mitarbeiter, wenn er durch nichts und niemanden gedeckt werden muss. Nur so kommen wir voran. Nur so. Stimmts?“ Er sah frohlockend in eine betreten schweigende Runde. Alessa war den Tränen nahe.
„Stimmt“, schleimte der Assistent Leitung PR MAIS Gujaland.
„Na klar, Herr Dr. Schwarzenegger“, wollte die Leiterin der PR MAIS Gujaland um nichts nachstehen.
„Ist da nicht eine klitzekleine Zahl von heute, die Sie mir nennen können, Frau Schimmelreiter?“, dieser Externe ließ nicht locker. Er hatte sein Opfer gefunden.
„Wir sind bei 8.500 Kultur-Abos“, brachte Alessa heraus.
„8.500… Ist das nicht eine schöne Zahl? Bemerkenswert, Grund zum Feiern“, er grinste und bekam von allen anderen außer den Mitarbeitern von Kreation Matura lachenden Beifall. Er aalte sich darin, so glatt wie seine Glatze.
„Noch nicht ganz 8.500, vielleicht 8.490 oder 8.495, aber kurz davor sind wir jetzt.“ Hätte Alessa besser geschwiegen.
Eisesschweigen.
Vulkanausbruch.
Der Externe schrie laut auf und beugte sich drohend über den Tisch in ihre Richtung:
„Das kann und darf es nicht geben!“
Ein schleimiger Spucketropfen landete direkt vor Alessa.
„Diese jämmerlichen Zahlen sind keine Grundlage für irgendeine Diskussion zum Fortbestehen dieses vollkommen überflüssigen Pseudo-Abos für drei graue Panther! Was sind denn das alles für Dilettanten?
Wir vertagen diese unerträgliche Sitzung um exakt eine Woche. Dann hoffe ich, sind Sie alle professioneller vorbereitet, um Ihr mickriges Konzept zu vertreten! Und Sie kommen, auch wenn Sie Urlaub haben, Herr Richter, dass wir uns verstanden haben!“
Mit knallrotem Kopf schoss der Externe auf, dass der Stuhl laut nach hinten flog. Alle anderen erhoben sich unmittelbar und der gerade mal 1,58 Meter große Berater war nicht mehr zu sehen als er laut stapfend aus der Tür ging. Alle hinterher bis auf das Kreation Matura-Team.
„Na, Michi, lädst du mich auf einen starken Kaffee für starke Männer ein?“, hörte man von draußen.
„Klar doch, Alex. Wir haben eine neue Maschine, die macht besonders starken Espresso“, hörten sie die Leiterin der Marketingabteilung gurren und sie vernahmen so etwas wie einen Klaps. Keiner wollte genauer wissen worauf. Sie wussten auch so, wo der Hase langlief. Flurfunk.
„So, so, daher weht der Wönd ab jetzt. Das kann was werden“, bemerkte Chrischi trocken.
Sie gingen schweigend zum Aufzug, fuhren schweigend in den fünften Stock des Jugendstil-Altbaus und gingen schweigend an den Transparenz-Baustellen vorbei zu ihren zwei Räumen. Kaum, dass die Tür zufiel, fing Alessa herzzerreißend an zu heulen und schimpfte und jammerte.
„Alessa, komm, so einen Sack darfst du dir nicht so zu Herzen nehmen! Siehst doch selbst, der kompensiert seine Größe mit Arroganz und fieser Schadenfreude. Mönderwertigkeitskomplexe sind das bei dem. Er hat nichts anderes als Vitamin B zur Vorstandsetage von MAIS Gujaland. So ein Möchtegern-Napoleon. Wir wissen nun, wie er gestrickt ist, und werden in Zukunft besser gewappnet sein“, versuchte Chrischi sie zu trösten.
ER reichte ihr Papiertaschentücher und sagte bestimmt:
„Das ist eine härtere Nuss als ich es mir vorgestellt hatte. Wir haben ja schon von anderen Agenturen im Land gehört, in die er Schneisen geschlagen hat. Ich dachte immer, die stellen sich alle bloß an. Jetzt weiß ich, dass sie nicht übertrieben haben. Jetzt sind wir dran. Es wird noch schwieriger werden, aber wir lassen uns von solch einem Menschen, der keine Manieren hat, nicht entmutigen, ganz im Gegenteil: Wir werden jetzt erst recht für unsere Ideen kämpfen und für die 8.500 Abos, für die wir dies tun. In einer halben Stunde überlegen wir uns eine Strategie.“
Sie nickten. ER ging rüber in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.
ER sank auf seinen Stuhl und fühlte das Blei in seinen Knochen schwerer denn je.
Er nahm einen Stift und kritzelte Nullen, endlos viele Nullen. Er starrte aus dem Fenster zur Eiche und beobachtete ein Eichhörnchen, das im Vogelfutterhaus nachschaute, ob schon Winterdelikatessen zu ergattern waren. Enttäuscht guckte es aus dem Vogelhaus und starrte ihn vorwurfsvoll an. Er zuckte mit den Schultern und lächelte zuversichtlich zurück. Gelassen sprang es in einem hohen gekonnten Bogen auf einen Ast und verschwand geschwind.
Er malte weiter Kreise. Kringel. Nullen.
Die Form der Eichel ist die Null.
Sie wächst durch Eichhörnchen, das die Eichel nicht wiedergefunden hat.
So wird aus der Null ein Baum von tausend Jahren.
„ÖR, wie wollen wir vorgehen?“ Erschrocken blickte ER auf. Er hatte gar nicht bemerkt, wie die beiden hereingekommen waren.
„Ah, du hast die Formel för onsere Strategie gefonden, feini!“ Chrischi konnte sich das erlauben, so mit seinem Chef zu sprechen. Sie hatten keine Hierarchie in ihrem kleinen Kreis. Es gab nur ein Team und jeder hatte seine Aufgabe darin. Das machte sie stark gegenüber den großen Maschinerien und Forderungen um sie herum. MAIS Gujaland, MAIS Milon, die Stadt Milon, ihr Hauptkunde, Sponsoren, Abonnenten, Theater, Konzerthallen, Kunstausstellungen, Lesungen, Kulturreisen, Kontakte, Akquise, Akquise, Akquise.
Ihn fing es an zu zermürben. Er zuckte kurz, riss sich zusammen und los gings. Funktionieren gehörte zu seinen Qualitäten.
Bis spät saßen sie und feilten an ihrer Strategie, den Löwen und seinen neuen Dompteur in der Höhle zu bezwingen.
Als gäbe es doch eine universelle Hilfe so lag seine Freundin schon im Bett, als er nach Hause kam. Das war das allererste Mal seit sie zusammen waren, also seit fünf Jahren. Und sie war krank, auch zum allerersten Mal! Und das so grippig, dass sie kaum einen Ton sprechen konnte und wenn sie es versuchte, eine halbe Stunde übelst husten musste. Für ihn war es eine sonderbare Mischung aus Mitgefühl und Erleichterung.
Der nächste Morgen sollte noch besser werden, denn sie bekam keinen einzigen Ton mehr heraus, nicht die kleinste Silbe! Wunderbar! ER war in Party-Stimmung. Er sah sie nicht an, denn er wusste, dass ihre Augen Giftpfeile versprühten. Er kochte ihr rasch möglichst liebevoll einen Thymian-Tee mit Honig und verschwand mit dem Kommentar:
„Dringende Termine und schlaf dich gesund, Sweetie.“
Eigentlich ätzend, dass ihr Leid ihm Auftrieb verschaffte. Besser allerdings als ihre Megalaune, die ihn runterzog. War das Liebe? Nein. Er konnte nicht mit, konnte aber irgendwie auch nicht ganz ohne sie. Aber das war jetzt nicht das Thema.
Die ganze Woche stand unter dem Motto: Bezwingung des Löwendompteurs. Jede erdenkliche Statistik wurde erstellt oder überarbeitet und eine perfekte Präsentation vorbereitet. Jeder kannte jede Zahl. So waren sie gewappnet.
Leider erholte sich seine Freundin schon nach zwei Tagen wieder. Ihre beiden Launen kehrtwendeten sich prompt und ebenso prompt setzte seine Nachtarbeit wieder ein.
Nacht für Nacht dieser Traum mit einer unüberwindbaren Kluft in unzähligen Varianten.
Die zweite Präsentation des Wirtschaftsplanes mit den hohen Herren und Damen von MAIS kam und ging.
Genau zehn Minuten waren sie drinnen. Alessa begann mit dem Vortragen der aktuellen Zahlen und Chrischi präsentierte parallel die schönsten Grafiken, da schoss dieser kleinwüchsige, glatzköpfige Dompteur aus seinem Stuhl empor und schrie sie an:
„Was ist das nur für eine erbärmliche Zirkusnummer, die Sie da allesamt abziehen? Was interessieren mich die Zahlen von heute? Sind wir hier auf dem Gemüsemarkt? Ich will wissen, wohin Sie Ihre erbärmlichen Kultur-Zombies treiben wollen? Wie Sie es schaffen wollen, diese kranke Abo-Zahl bis zum nächsten Jahr mindestens zu verdoppeln. Das schaffen die Kollegen mit ihrer Szene.Card doch auch! Aber Sie scheinen genauso verstaubt zu sein wie Ihre Abonnenten. Wenn ich hier an dieser Stelle in einer Woche nicht Zahlen sehe, die grün am Horizont leuchten und einen zusätzlichen Sponsor, mit dem sich die Stadt Milon zeigen lassen kann, dann wird diese ganze Klitsche ausgetauscht oder am besten gleich zusammen mit dem schwachsinnigen Projekt eingestampft!“
Seine Adern quollen und pochten bedrohlich, die Nasenflügel vibrierten, der Kopf war in alarmierendem Dunkelrot und schien kurz vor einer Explosion. Er schmiss die schönen Statistiken respektlos vor ihre Nasen zurück, schmiss seinen Stuhl zurück und verschwand. Mit ihm natürlich, mit leicht hängenden Schultern und eingezogenen Schwänzen, alle diversen Mannen und Frauen von MAIS.
Alessa flennte, was das Zeug hielt. Was zu viel war, war zu viel.
„Dieses A… vor dem Herrn. Er ist so ein W…“, schluchzte sie.
Er nickte:
„Ja, ich wünschte, dass diesem Herrn externen Berater auch einmal die Worte im Halse stecken blieben, so, wie meiner werten Frau Freundin“, meinte ER mit schwacher Stimme und flehendem Blick gen Himmel. Er kramte nach Taschentüchern, die er Unheil ahnend eingesteckt hatte. In seinen Handinnenflächen waren tiefe Rillen durch seine Fingernägel, so fest hatte er seine Fäuste geballt. Unter dem Tisch.
„Ja, dann hätte er keine Macht mehr“, meinte Chrischi. Es war das erste Mal seit sie zusammen arbeiteten, dass dieser positive, immer gut gelaunte junge Mann von Mitte dreißig, vollkommen niedergeschmettert dasaß und mit den Schultern zuckte.
ER richtete sich mit einem Mal auf:
„Leute, das war so eine krasse, völlig absurde Nummer. Ich glaube, jetzt bin ich über dem Punkt. Ich setze zum Angriff. Und wenn es meinen Kopf kosten soll. Was meint ihr? Alle guten Dinge sind drei! Einmal werden wir noch alles geben und wenn diese Pappnasen, allesamt, wie sie dasaßen, meinen, ihrem Dompteur in den Arsch kriechen zu müssen, dann sollen sie. Ich will es nicht, ich will nicht nach seiner Scheiße stinken! Basta!“, sagte ER in einem ganz sachlichen ruhigen Tonfall. Er erkannte sich selbst nicht mehr.
„Okay, okay! Genau! Das will ich auch nicht. Wir krögen das hin! Ich weiß zwar nicht wie, aber wir schaffen das, nicht wahr Alessa?“ Chrischi sah liebevoll zu Alessa, die wie Benjamin ihre Nase putzte und dann lächelte:
„Genau, alle guten Dinge sind drei. Eine letzte Chance geben wir diesem Alien. Und ich werde keine Träne mehr für diesen W… vergießen.“
„Beschlossen und verkündet!“
So watschelten die drei entschlossen zurück in die Büros. Maggi, die sich mit Hanna eine Sachbearbeitungsstelle teilte, vormittags arbeitete und sich um die Abos kümmerte, war völlig irritiert, als sie sie in dieser Aufbruchsstimmung nach so kurzer Zeit wieder hereinkommen sah und dann hörte, was sich abgespielt hatte. Larry, ein Student, rief nur:
„Einer für alle und alle für einen!“ und alle kamen zusammen und überkreuzten ihre Stifte.
„So, das ist die Basis und nun zaubern wir einen Sponsor“, rief Chrischi in seiner Euphorie, was ER dazu bewegte, sich in sein Zimmer zu verkriechen und Kringel zu zeichnen.
Wir schenken dieser kleinen Eiche von nunmehr einem Blatt unsere volle Aufmerksamkeit und bauen unsere Stadt drumherum.
Wieder standen seine beiden Mitarbeiter wie aus dem Nichts vor ihm.
„Ich hab tatsächlich eine Idee, ÖR, eine kleine, aber ömmerhin!“, lächelte Chrischi vielsagend.
„Setzt euch. Ich habe auch was. Fang du an. Was ist das für eine Idee?“ ER konnte umschalten, wenn er wollte. Wie gut, dass er solch tolle Kollegen hatte. In jeder anderen Abteilung hätte er sich schon die Kugel gegeben. Aber für diese feinen Menschen, da konnte und wollte er nicht aufgeben.
„Ich bin am Wochenende mit einem Bekannten von meinem Freund und dessen Freundin und mit meinem Freund natörlich auch… Ihr wisst ja…“, Chrischi machte es spannend.
„Chrischi!“, ermahnte ER ihn und brach seinen Bleistift ab. Alessa schob ihm den Anspitzer rüber.
„Okay, okay. Also wir sind alle, Mann wie Frau, in der VIP-Lounge vom Miloner SV zum Chömpions-League-Spiel am kommenden Samstag in der Hallstadt-Arena“, erzählte Chrischi gelassen.
„Und…?“ ERs Geduldsfäden waren aufs Äußerste gespannt.
„Und… Der Bekannte meines Freundes ist zufällig der Leiter von Cooperations und Övents von keinem anderen als der besten Automarke der Welt – von Wheelstars! Versteht ihr? Wheelstars!“
Kurze Denkpause.
Anerkennendes Nicken.
„Das ist gut. Das ist nicht nur gut, das ist perfekt! Das könnte passen, wenn wir ein bisschen basteln. Milon ist eine Stadt, die für Wheelstars interessant sein könnte. Unsere Klientel passen exakt in ihre zahlungskräftige Zielgruppe. Prima, Chrischi!“
Chrischi grinste zufrieden vor sich hin.
„Was ist mit deiner Idee, ER?“, hakte Alessa nach.
„Ich werde der Miloner Marzipan-Manufaktur MMM einen Besuch abstatten. Meine Freundin ist ja Kontakterin in einer Werbeagentur, die diese als Kunden haben. Sonst ist bei ihr leider nichts Brauchbares für unsere Zielgruppe dabei. Aber MMM mit seinen handgeschöpften Pralinen, das könnte passen. Wenn das klappt, dann hätte sich das Zusammensein mit ihr tatsächlich doch gelohnt...“. Er seufzte:
„Dass ich daran nicht schon früher gedacht habe“, und schüttelte den Kopf.
Alessa lächelte sie beide hoffnungsvoll an:
„Bis jetzt war es ja auch kein Thema. Milon kam schließlich vor sieben Jahren mit der Abo-Idee auf uns zu, nicht wir auf sie. Sie wollten die Kultur-in-Milon-Abo-Karte, um die Kultur-Bewohner der Stadt an sich zu binden, und für diese arbeiten wir. Wenn das allerdings so weitergeht, dann ist unser anspruchsvolles Magazin in kurzer Zeit voller Werbung und unterscheidet sich kaum mehr von einer gewöhnlichen Illustrierten. Dass dieses Magazin ein Aushängeschild der gehobenen Kulturlandschaft von Milon ist, wird bei mehreren Sponsoren völlig untergehen. Dieser Möchtegern-Dompteur scheint Kultur ganz auf die Schiene des Kommerzes hebeln zu wollen, so, wie ich es von MAIS Gujaland aus der Hauptstadt gehört habe. Der hat null Ahnung von echter Kultur. Ach, jammern nutzt nix. Wir ziehen das Ding jetzt durch. Wie gut, dass ihr zwei beiden solche guten Eingebungen habt.“
„Dann will ich mal eine Runde telefonieren. Anschließend überarbeiten wir die Sponsoren-Präsentationen. Besonders die Kontaktzahlen wollen wir ein bisschen aufmöbeln.“ Doppelzuckende Augenbraue und die beiden ließen ihn allein.
Kringel.
Auch beim Düngen kommt es auf die Dosis an.
Nur wenige Hunde sind auserkoren, an den Stamm der kleinen Eiche zu pinkeln.
Je größer sie wird, desto mehr Hunde dürfen pinkeln.
Generationen von Hunden, und ein und dieselbe Eiche wächst und wächst ganz selbstverständlich auch ohne uns.
Wie auch immer, aus den Gedanken um die Eiche schöpfte er Kraft. Er ergriff den Hörer auf und rief seine Freundin an:
„Honey, wir brauchen Sponsoren für unser Kultur-Abo, sonst schießen sie uns in den Wind. Hier stehen alle Alarmzeichen auf Rot. Kannst Du mir einen Kontakt zu MMM geben? Könnte gut passen. Sicher zählt unsere Zielgruppe zum Großteil auch zur Käuferschicht ihres edlen Marzipans und ihrer handgeschöpften Pralinees. Bei Außenauftritten können wir sie perfekt mit ins Boot nehmen, ich meine bei unseren Info- und Verkaufsständen bei Konzerten, Theateraufführungen, Kunstausstellungen, Lesungen, Führungen, auch in anderen Städten. Kleine Verköstigungen in den Pausen, großes Käuferpotential. Außerdem haben sie das gleiche Blau in ihrem Corporate Design wie Milon neuerdings.“
ER klang bewusst locker. Es strengte ihn noch nicht einmal an. Es war ja auch plausibel, sie zu fragen, warum nicht? Sie teilten ein Bett und heute Abend seit ewigen Zeiten einmal wieder wirklich. Für kurze Zeit schwangen sie auf der gleichen Welle, denn er sprach ihre Sprache.
Am nächsten Morgen stand ER ungewöhnlich frisch auf. Er ließ sich von seiner Freundin einkleiden, was sie sichtlich genoss. Heute ließ er es zu, aber ansonsten nicht mehr, denn seine Klamotten, so schräg sie ihrer Meinung auch waren, waren das einzige, das noch er selbst war, wenn auch ein gewisses trotziges Selbst. Ansonsten hatte sie schon alles an ihm absorbiert, inklusive seiner Seele.
Sein Traum, dieses Mal keine Kluft, dafür Tiere, die sich ständig verwandelten, jedes Mal, wenn er hinsah. Bunt waren sie bisweilen. So ward aus einer pink-blau gestreiften pickenden Stadttaube beim nächsten Hinsehen eine rosa Katze, die sich an ihn schmiegte, die dann als Ratte in grau das Zimmer verließ. Auch irritierend. Eine Maus mit weißem Fell und bunten Punkten, die an der Wand saß und zu unzähligen bunten Kellerasseln wurde, die über einen Trichter in den Kachelfugen verschwanden. Sehr merkwürdig.
Dieses merkwürdige Gefühl hielt den ganzen Tag an. Auch als er die heiligen Hallen von MMM betrat, war ihm, als wüsste er nicht so recht, ob das, was er sah, echt war oder ob es sich gleich verwandeln und verschwinden würde.
Als er aber, eingepackt in weiß mit Duschhaube, durch die Produktionshalle geführt wurde und schließlich mit den edelsten Marzipansorten verköstigt wurde, da wusste er es. Die konnten nur echt sein. Er war erleichtert und sogar fröhlich.
Genau diese Stimmung übertrug sich auf seinen recht unförmigen Ansprechpartner, den Junior von MMM, Herrn Hans Achterliek, Mitinhaber des Familienunternehmens in dritter Generation. Zunächst begrüßte dieser ER mit einer offensichtlich notgedrungenen Pflichterfüllung und schob ihn in die Produktionshalle. Kaum, dass ER sah, wie liebevoll jede einzelne Marzipanpraline in flüssige Schokolade getunkt und gewälzt wurde, stieß er Entzückensrufe aus:
„Als Kind schon träumte ich davon, einmal im Leben hier zu sein! Marzipan von MMM gab es nur zu besonderen Gelegenheiten, also eine Kostbarkeit! Das ist es nach all den Jahren immer noch, unbestritten. Jedes Stück ein Unikat und eine kleine Kostbarkeit. Wie schön und tröstend zugleich!“ ER blickte in Herrn Achterlieks runde Äugchen und stutzte:
„Oh, ich kann mir vorstellen, dass Sie das schon hunderte von Malen gehört haben. Ich kann mir das so gut vorstellen. Sie machen ja auch Führungen für die Öffentlichkeit. Wenn da diese Busse von lauten Menschen ankommen und quietschende Frauen und schwitzende Männer beim raffsüchtigen Probieren laut vor Zuckerorgasmen stöhnen, das muss mehr als anstrengend sein. Kein leichter Job, auch wenn man von außen denkt, wie toll das wohl ist… Aber das jeden Tag, das ist keine einfache Nummer… Ich verstehe das… Das… Jeden Tag… Aber man tut das, man funktioniert… Für die Sache, die an sich gut ist. Und die Leute und was auch immer…“ Er ließ die Schultern mitfühlend hängen und noch mitfühlender sah er ihn an.
Herr Achterliek nickte, hielt seinen Kopf leicht schräg und sah ER aus einem Äuglein spitzbübisch an:
„Volltreffer! So genial könnte ich es nicht in Worte packen. Haben Sie Lust auf einen Spaziergang?“ Er drehte sich spontan um und ging Richtung Ausgang. ER rasch hinter ihm her.
„Äh, ja, natürlich. Frische Luft tut immer gut. Ich war zwar schon lange nicht mehr draußen, aber es wird schon gutgehen“, grinste ER.
„Dachte ich mir. Und ich kann das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Mein Hausarzt hat mir Bewegung an frischer Luft verordnet. Mindestens eine Stunde pro Tag. Der hat gut-Rat-geben. Wie soll ich das in meinem Terminkalender unterbringen, bitte schön?“
„Genau, auch das kenne ich gut. Die Arbeit saugt einen auf und im Nu hat man zig Zimperleinchen. Und abends hat man keinen Bock mehr, den inneren Schweinehund zu überlisten.“
„So ist es. Dann noch die vielen Geschäftsessen abends, das ist ein Fass ohne Boden. Sie haben sich gut gehalten.“ Die Äuglein musterten ER kurz anerkennend.
„Naja, danke, geht so. Meine Freundin sieht das anders. Und meine Tochter sowieso. Das sind beides ehrgeizige Fitness-Mäuse.“ ER merkte, wie die Schwermut ihn gerade wieder wegziehen wollte und schob das lähmende Gefühl rasch beiseite. Er wollte dieses Gespräch nicht zerstören, es ging um zu viel.
„Das ist bei mir fast das Gleiche. Unglaublich. Heute Morgen dachte ich noch, ich schmeiße den Laden hin. Soll Vater doch machen wie er meint. Meine Schwester, Fitness-Maus hoch hundert, ist unterwegs in allen Herren Ländern und knüpft neue Kontakte, um den Export anzukurbeln, was wir auch dringend nötig haben. Mein Vater ist da sehr konservativ und sperrt sich noch hartnäckig gegen Expansionen. Er will, dass es so, wie es ist, ewig weiterläuft, aber die Konkurrenz schläft nicht. Meine Schwester ist noch eine Nummer schärfer drauf als ich. Sie will sogar im Ausland produzieren lassen. Wir haben letzte Woche glücklicherweise über den Aufsichtsrat besiegelt, dass wir die Produktionsstätte hier im Land behalten wollen. Sie wurde klar überstimmt. Zähneknirschend. Das wäre selbst mir zu viel. Hat man ja gar keine Kontrolle mehr. Hier sind wir allerdings unter der Kontrolle meines Vaters… Er kann schwer loslassen, was er aufgebaut hat. Kann ich verstehen und auch wieder nicht. Er übt sicher hier und da berechtigte Kritik, dennoch…“, Herr Achterliek stutzte, wohl, weil er merkte, dass er zu sehr ins Persönliche abrutschte.
„Egal, ich erzähl es Ihnen, Sie werden mich verstehen und nicht weiterquatschen, das spüre ich. Unsere Kooperation ist besiegelt. Vater wird es gefallen mit der Stadt zusammenzuarbeiten. Dazu der Kultur-Bereich, den Sie vertreten und an traditionsbewusste Männer und Frauen bringen. Das passt zu einem Unternehmen wie wir es sind, das passt. Ich habe meine Hausaufgaben schon gemacht und kenne das Miloner Kultur-Abo mit allem Tamtam. Ich habe selbst leider viel zu wenig Zeit für Kultur. Bei uns dreht sich alles ums Essen. Wir stricken da was draus, das uns beiden gefällt.“
„Das freut mich sehr. Essen hat auch etwas mit Kultur zu tun, je nachdem“, mehr bekam der erstaunte ER nicht heraus. Sie waren mittlerweile im Park gegenüber angekommen. Er hatte etwas geschafft, was ansonsten auf dem Golfplatz oder im Spa besiegelt wird, oder in irgendeiner VIP-Lounge. Nach einer halben Stunde. Ohne Präsentationen und Lobpreisungen auf die Zukunft. Stattdessen war da ein Mann, den er das erste Mal gesehen hatte und zu dem er eine eigentümliche Verbundenheit empfand, als kannten sie sich schon seit der Sandkiste.
Herr Achterliek fuhr also wie selbstverständlich fort in seinem Redefluss:
„Seien Sie froh, dass Sie nicht im Hause Achterliek aufgewachsen sind. Mein Vater hatte nur die Firma im Kopf und dass ich sie übernehmen soll. Meine Mutter existierte seit meiner Geburt nicht mehr für ihn. Als ich meine Ausbildung in einem befreundeten Pralinenunternehmen und ein klassisches langweiliges BWL-Studium abgeschlossen hatte, starb sie. Vor zwanzig Jahren. Einfach so. Kein Wunder. Was für ein Leben. Ich war froh, dass sie tot war. Es war unerträglich, diese liebevolle Frau zu sehen, die sich jede Sekunde aufopferte…“
In dem Moment strauchelte ER und fing sich sogleich wieder. Er war über die Füße einer älteren Frau gestolpert, entschuldigte sich aufrichtig und strich gedankenverloren sein dunkelblaues Jackett glatt. Er hatte nicht gesehen, dass auf der Bank überhaupt jemand gesessen hatte. Er sammelte sich:
„Ich kenne es andersherum. Meine Mutter gab immer den Ton an und mein Vater funktionierte. Man weiß letztendlich nicht, ob man sie liebt oder hasst, liebte oder hasste. Wahrscheinlich beides.“ ER war verblüfft über sich selbst. Einem wildfremden Menschen das tiefste Innere zu offenbaren, das hatte er noch nie getan. Überhaupt. Wann hatte er schon mal über seine Eltern nachgedacht, geschweige denn gesprochen?
„So ist es. Das weiß man nicht und das ändert sich jede Sekunde. Ich liebe meinen Job, was anderes kenne ich nicht. Ich tu alles, dass der Laden läuft und am Leben erhalten wird.“ Herr Achterliek blieb unerwartet vor einer Buche stehen und sprach mehr zu ihr:
„Das Fatale ist, des Rätsels Lösung wäre, da auszubrechen und was ganz anderes zu machen. Wohl hundert Mal habe ich mir dies fest vorgenommen, aber scheiterte jedes Mal, sobald ich in die Augen meines Vaters sah. Keine Chance.“
ER war weitergegangen, weil er nicht gemerkt hatte, dass Herr Achterliek mit der Buche redete, drehte sich also um, ging die paar Schritte zurück und gesellte sich zu ihm vor die Buche.
Sie sahen sich nicht an, nur die Buche. Beide mit den Händen in den Hosentaschen. Von hinten sahen sie aus, als würden sie freundschaftlich gegen den Baum pinkeln.
„Gibt es Nachfolger?“, fragte ER.
„Nein. Meine Schwester ist zwei Jahre älter und hat keine Kinder. Sie ist eine Power-Business-Frau. Da hat eine Familie keinen Platz.“
„Ich glaube, sie wollte nicht so werden wie ihre Mutter, und es ihrem Vater wiederum zeigen, dass sie als Erstgeborene dennoch eine Berechtigung hat, auch wenn sie kein Sohn geworden ist“, überlegte ER laut.
Die Buchenblätter rauschten. Ein paar segelten um ihre Ohren.
„Ja, ersteres hat sie mir tatsächlich genauso gesagt. Das zweite erklärt, warum sie sich wie ein Mann verhält. Wenn ich so recht überlege, hatte Vater sie irgendwie auch nie als Mädchen gesehen. Sie hatte immer jungenskurze Haare, prügelte sich mit den Jungs, was mein Vater stolz überall erzählte, trieb Sport ohne Unterlass, und war unausstehlich, wenn sie mal nicht Erste oder Beste war. Mein Vater trieb sie zu den Sportwettkämpfen und schmückte sich mit ihren Medaillen und Pokalen“, erzählte Herr Achterliek emotionslos weiter.
„Und ihr Vater hielt Ihnen die Pokale vor die Nase, war es so?“, fragte ER einfühlsam, aber ebenso emotionslos.
„So war es. Aber ich wollte nicht. Keinen Sport. Ich war früh schon pummelig. Kein Wunder. Kaum, dass ich laufen konnte, war ich in der Firma. Zu Hause kochte meine Mutter so lecker, weil sie mich verwöhnte. Ich war ihr Prinz. Sie nahm mich so, wie ich war. Sie stopfte mich voll mit ihrer Liebe, denn sonst hatte sie keinen.“
„Das ist eine harte Kost, die zu gute Kost!“
„Wie war Ihre Mutter?“
„Ich genügte ihr keinen Moment. Immer gab es ein noch mehr, ein noch besser, noch größer. So wie der Nachbarsjunge, wie meine Klassenkollegen, so wie der Sohn ihrer Freundin, wie der Sohn der Fleischverkäuferin oder der Fischfrau, den Söhnen der Gymnastik-Tanten oder der unzähligen VHS-Kursteilnehmer. Schlimmer für mich war es, wenn sie mich vor meinen Freunden bloßstellte. Immer gab es ein Besser. Dann ihre ständige Angst, wenn ich mal eine Idee äußerte. Ewig dieses ‚Pass auf, was du tust, pass auf!‘ Überall redete sie mir rein. Machte Vorschriften in einer Tour: ‚Du musst dies tun, du musst jenes tun, muss, muss, muss.‘“
„Das schreit nach Rebellion!“, rief plötzlich Herr Achterliek und eine kämpferische Faust schoss gen Himmel.
„Das habe ich mich nie getraut. Ich war schüchtern, war nicht der Held, den sie haben wollte. Das hätte ich auch nie erreichen können.“
„Ja, nicht schüchtern… Eingeschüchtert waren wir. So ist das mit den Eltern. Und wir, wir wissen es jetzt und können es trotzdem nicht ändern. Braucht man nur in ihre Augen zu sehen und aus die Maus. Bleibt allein die Flucht, wie es meine Schwester handhabt, oder eben hierbleiben und bestmöglich durchstehen.“ Herr Achterliek zuckte seine Schultern und drehte sich zu ER:
„Ich heiße übrigens Hans.“ Hans Achterliek streckte die Hand aus.
„ER“, reichte ER ihm die seine.
„Ich weiß“, grinste Hans. „Dann bis bald.“
„Freut mich sehr.“
„Mich auch.“
Damit drehte sich Hans Achterliek um und ging. Und ließ ER an der Buche stehen. An der Bank, ohne die Frau, drehte Hans sich noch einmal um und rief:
„Ich schicke dir nachher einen Kooperationsvertrag über 200.000. Die Konditionen klären wir später. Das wird für beide passen.“
„Ja, super, danke! Das wird passen, ganz bestimmt, für beide!“ ER winkte ihm zu.
„Weiß ich!“, rief Hans und drehte ab.
Es war wie im Traum. Er lief in Gedanken versunken über die Wiese zum Weg.
„Was ist Illusion?“, sagte jemand neben ihm.
Er schaute sich um. Niemand. Die Bank war leer.
Er ließ alles in Gedanken, wie es war. Sein Kopf war voll und leer zugleich. Wie ferngesteuert steuerte er Richtung MAIS.
Wie einen Helden empfingen sie ihn. Das alles war Illusion. Er war noch im Traum.
„Hier, der Kooperationsvertrag – Du brauchst nur noch zu unterschreiben! Unglaublich! Du bist ein Fuchs!“
„Das ist der Hammer! Gratuliere!“
„Das ist die Rettung, ER!“
„Du hast es drauf! Nach nur einer Stonde 200.000 Tacken!“
„Einer für alle und alle für einen!“, kam es von Larry, klar. Er hielt ein Lineal in die Luft, das alle mit ebensolchen Gerätschaften überkreuzten und die Siegesparole immer und immer wieder wiederholten.
Das war kein Traum. Es war wahr. Und ER war glücklich, sie alle glücklich zu sehen!
„Dann gebe ich Euch allen heute Mittag ein Essen aus. Ohne solch ein tolles Team wäre das nicht möglich gewesen“, rief er ihnen lachend zu.
„In der Kantöne?“, scherzte Chrischi.
„Nein, natürlich nicht. Wir gehen zum Italiener am Fluss. Das gönnen wir uns! Und am Montag gebe ich wieder eines aus“, sagte ER.
„Wieso am Montag? Die Henkersmahlzeit vor dem Dienstag-Termin?“, wollte Alessa wissen.
„Quatsch! Weil unser Chrischi am Montag mit dem Vertrag für die Kooperation mit Wheelstars im Rucksack ins Büro kommen wird!“, erklärte ER lachend und hielt wieder seinen Kuli in die Luft.
„Einer für alle und alle für einen!“
Zwei Tage voller Euphorie. In der Firma und im Bett.
Samstag früh jedoch kam es zum Streit:
„Und wieso gehst du nicht in die VIP-Lounge von der Hallstadt Arena? Es geht um eine Menge. Da kannst du doch nicht Chrischi hinschicken, so, wie der immer rumläuft“, fing sie an zu zetern.
„Das ist Chrischis Kontakt!“, antwortete ER kurz.
„Chrischis Kontakt hin oder her. Solch ein Gespräch ist Sache der Leitung und nicht die so eines dahergelaufenen Mitarbeiters, der nicht einmal vernönftig reden kann“, stichelte sie weiter.
„Chrischi ist ein feiner Kerl, der mein vollstes Vertrauen hat“, verteidigte er müde.
„Vertrauen, ja, weil du selbst zu bequem bist, dir solche Kontakte aufzubauen. Brauchst mich und diesen Grafiker, um den Laden zu retten.“ Sie hörte nicht auf.
Er schwieg.
„Da fällt dir nichts zu ein! War doch klar. Du musst da heute Nachmittag hin, sonst kannst du die Connection knicken“, fing sie an zu kommandieren.
„Er packt das. Es sind seine Freunde. Außerdem bin ich zu bequem. Jetzt lass mich in Ruhe, ich lese gerade die Zeitung.“ ER nahm die Zeitung wieder hoch.
Zack. Die Zeitung landete auf dem Boden.
„Sag mal, spinnst du?“, sagte er empört und hob die Zeitung wieder auf, um sie zu glätten.
„Hier geht es um wichtige Entscheidungen und du willst Zeitung lesen? Hast du kein Rückgrat?“, forderte sie ihn weiter heraus.
„Was willst du von mir? Der Termin steht, ob es dir gefällt oder nicht. Du hast keine Ahnung, wie es bei uns abläuft“, konterte er sehr müde.
„Ich? Keine Ahnung? Ich bin die Chef-Kontakterin einer der größten renommierten Werbeagenturen des Landes und du sagst, ich habe keine Ahnung? Du kriegst deinen schlaffen Arsch nicht hoch und sagst mir…“ Sie kochte.
Er stand auf.
„Ich geh zum Frisör, damit ich Dienstag ordentlich aussehe“, meinte er gelassen und ließ sie in der Küche stehen. Wutentbrannt schmiss sie die Tür hinter ihm zu, mit unzähligen Beschimpfungen und Empörungen.
Er hatte es satt. Es führte zu nichts. Er fühlte wieder diese Leere.
Der Frisör war eine rettende Idee. Einfach nur dasitzen, nichts tun müssen, für nichts und niemanden. Jemand da, der an den Haaren herumschnibbelte und dem es auch noch Spaß machte wie Frau Su, der Frisörin.
„Ich könnte auch eine Kopfmassage gebrauchen“, bat er, als sie ihm den Umhang umlegte.
„Sehr gut, mein Herr. Ich schon gewundert, nix viel zu schneiden. Letzte Woche schon dagewesen der Herr. Entspannt sich, mein Herr. Legt Sie Kopf hier hin. Augen schließt. Locker. Alles locker. Gut so?“, meinte die Frisörin freundlich. Frau Su war immer freundlich und lächelte. Einfach immer.
„Oh ja, sehr gut. Danke.“
Er atmete tief durch. Sie begann, die Haarwurzeln zu bearbeiten.
„Das tut so gut! Ich glaube, ich komme jeden Tag zur Kopfmassage“, seufzte er.
„Mein Herr sehr angespannt. Viele Blockaden. Chi-Fluss nicht gut. Muss Übungen machen für ganzen Körper, mein Herr“, meinte sie einfühlsam.
„Ja, ich müsste so vieles“, sagte er müde.
„Oh, nix meint so das Muss. Soll Spaß machen, sonst bleiben lassen. Mir macht viel Spaß Übungen von Taiji. Guter Fluss im ganzen Körper. So nicht schlimm Job, den ganzen Tag stehen. Macht nicht.
Kommt Sie jeden Tag. Ich Sie zeigen dann Übungen von der Chi-Gong. Kleine Übungen. Helft auch sehr gut für innere Fluss“, erklärte sie ihm weiter sehr freundlich. „Und macht Ihnen immer Kopfmassage und musst gar nichts tun außer dasitzen, mein Herr.“
Sie massierte hingebungsvoll den Kopf. ER stöhnte vor Wonne leise vor sich hin.
„Oh ja, das klingt gut. Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo ich einfach nur dasitzen darf.“
„Sie verheiratet. Ihre Frau sicher auch gut in Massage. Versucht Sie mit Ihrer Frau. Ist gut für Ehe“, ermutigte sie ihn.
„Meine Frau. Wir sind nicht verheiratet und wenn ich ganz ehrlich bin, ich wünschte, sie würde einfach gehen, möglichst bald. Sie wäre eines Morgens einfach weg und würde mich endlich in Ruhe lassen.“ ER nickte zu sich.
„Oh, schwere Krise. Spüre ich in Fingern. Kommt vor. Manchmal kommt wieder zusammen, manchmal Trennung ist sie besser. Wenn nicht sprechen können, dann ist schlecht. Wenn Sie nicht aushalten, auch Sie können gehen. Suchen ruhigen Ort zum Energie sammeln. Ihre Energie ist sehr schwach. Besser wieder aufladen Batterie. Dann wieder besser reden möglich“, riet sie ihm fürsorglich.
„Zum Gehen fehlt mir die Kraft. Kann ich nicht“, seufzte er.
„Dann jetzt besser einfach nur sitzen, nicht reden, alles Gedanken fliegt raus wie Schmetterlinge. Einfach nur dasitzen und genießt Sie, mein Herr.“
Sie massierte weiter, ruhige, sanfte Kreise.
Er saß nur da und genoss.
Danach fuhr er zur Agentur.
Es war Samstag und freie Parkplatzwahl. Wie angenehm. Wie angenehm, den Flur entlang zu gehen und kein Mensch quatschte einen an. Keine dummen Bemerkungen. Wie angenehm hinter dem Schreibtisch zu sitzen und vollkommene Ruhe um sich zu haben. Der angenehmste Ort der Welt.
Oh Mann, wie tief war er gesunken.
Er seufzte und dachte, dass das doch alles nicht wahr sein konnte. Er floh zur Frisörin und ins Büro. Es konnte so nicht weitergehen, aber er hatte keine Kraft, irgendetwas zu ändern. Die Mitarbeiter brauchten jetzt all seine Reserven.
Kringel.
Wir vergehen und Eiche bleibt und erzählt viele Geschichten in den Wind.
Die Vögel lauschen und Igel spitzt seine Ohren.
Die ganz Jungen recken ihre Blättchen in ihre Richtung, weil sie ihre Geschichten lieben und weil sie so werden wollen wie sie.
Handy-Klingelton: vChat. Er spähte hinein und es war seine Tochter:
„Hey, Dad! Wie gehts? Wo bist du denn? Im Büro? Weißt du, dass es Saturday ist? Habt ihr euch gestritten? Hast du dich im Gym angemeldet? Das wird sie mögen und ich auch, weil das gut für dich ist.“ Ein Wortschwall aus Donlon.
„Hey, Miri. Es geht so. Im Büro. Ja. Ja. Vielleicht. Nein. Ich weiß auch, was gut für mich ist. Deswegen bin ich hier. Was macht dein Studium?“, beantwortete er kurz alle Fragen und lenkte auf sie um.
„Nenn mich nicht immer Miri, Dad! Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Studium ist prima. Ich habe meine zweite eigene Kollektion fertig und am nächsten Wochenende meine erste eigene Modenschau bei Lucy’s in der Parcroad. Das ist die Straße für Mode überhaupt. Und der Laden sowieso. Wollt ihr beiden mich dort nicht mal besuchen, auf ein nettes Wochenende zum Versöhnen? Ich kenne eine Menge schnuckeliger In-Läden, auf einen Cocktail und Fingerfood, oder Tapas-Bars, oder Sushi, das liebt deine…“
„Ne, lass mal, das passt jetzt gerade nicht. Ich habe viel um die Ohren mit MAIS, Wirtschaftsplan…“, unterbrach er sie etwas unsanft.
„Dad, mach doch mal was anderes. Mal raus aus der Agentur. Tut dir auch gut“, versuchte sie es weiter.
„Miri, Miro, Miriam. Ich sagte eben, dass ich selbst weiß, was gut für mich ist. Passt momentan wirklich nicht. Tut mir wirklich leid. Bei der nächsten Modenschau bin ich dabei. Versprochen!“ Er versuchte etwas einzulenken.
„Das ist aber dann nicht mehr die erste… Du warst ja auch bei der Vernissage von dem Schnösel von Neffe. Sogar schon das dritte Mal und mich hast du noch kein einziges Mal hier in Donlon besucht. Hier bist du viel schneller als im Süden bei diesem Schnösel…“, versuchte sie weiter gekränkt.
„Das ist ja auch etwas anderes. Er wird darin ja auch ernsthaft weiterarbeiten…“ Das Fettnäpfchen wurde deutlich größer.
„Wieso? Ich etwa nicht?“ Sie war schon sehr beleidigt.
„Naja, die biologische Uhr tickt. Du bist 28 und bis du fertig bist, bist du 29 und da solltest du schon mal an Kinder denken…“, überlegte er ehrlich, aber unpassend und extrem undiplomatisch.
„Dad, willst du mich an den Kochtopf abschieben wie mein Prof in Milon? Deswegen hab ich doch die Uni gewechselt, weil der uns Frauen alle so derbe behandelt hat und jetzt redest du genauso wie er… Ich habe die Chance, mit meinen Entwürfen ganz groß an den Markt zu kommen! Vertreter großer Modelabels werden unter den Zuschauern sein. Ist das nichts? Soll ich das fallen lassen, weil ich irgendwann einmal Kinder kriegen soll?“ Sie sah unglücklich aus und war den Tränen nah.
„So war das nicht gemeint. Das kannst du ja auch gut weitermachen, wenn die Kinder da sind, warum nicht? Wenn sie in die Schule kommen, hast du eh wieder den ganzen Tag Zeit, naja, wenn sie in einer Ganztagsschule sind, wie es jetzt überall wohl so üblich ist. Es ist bestimmt gut, was du entwirfst, und ich sehe es mir bestimmt einmal an, nur jetzt nicht. Das nächste Mal…“, versuchte er, das Gespräch zu glätten.
„Ph… Das nächste Mal… Ich weiß gar nicht, ob ich Kinder haben will. Ich liebe meinen Job. Wie deine coole Freundin.“ Tränen flossen.
„Oh. Ah. Nun wein doch nicht. Deswegen musst du nicht weinen. Mach erst einmal deinen Master fertig und dann wird sich schon alles zeigen. Ich wollte auch erst keine Kinder, aber als ich dich dann sah, war ich doch glücklich…“ Das half nicht mehr. Mit tränenerstickter Stimme und einem „Bye, Dad“ hatte sie den Video-Anruf beendet.
Ach, auch seine Tochter. Er verstand sie nicht. Er wollte doch nur ihr Bestes und fand Enkel allmählich schon passend. Er fand nichts Verwerfliches, sie sich zu wünschen in dieser öden Welt. Sie wären für ihn eine so schöne Ablenkung von allem, ein Strohhalm.
Er klappte seinen Laptop wieder zu.
Er starrte aus dem Fenster. Blätter rieselten langsam am Fenster vorbei.
Warten. Leere Gedanken. Starren.
Kringel.
Eiche verschenkt einen Ast an Specht.
Selten kommt dies vor und Specht baut seine Höhle für mehrere Jahre.
Das Spiel in der Hallstadt-Arena müsste schon längst vorbei sein. Er klappte den Laptop wieder auf und schaltete auf den Livestream der Sport-Reportage.
Ja, vorbei. 3:2!
Gewonnen! Ein gutes Omen.
Bingo. Anruf. Chrischi.
„Wir haben es geschafft! Eingetötet! Kriegen einen eigenen Wagen, den neuesten Geländewagen, natürlich mit gebrandetem Onternehmenslogo, auch von der Stadt mit dem Kultur-Abo, klar! Passt auch ordentlich was rein. Passt super, wenn wir durch die Stadt oder öbers Land fahren. Sie wollen noch das kleine Jazz-Ensemble von den Milon-Dixies für ihre Promotion-Veranstaltungen. Das könnten wir doch wonderbar vernetzen. Da sind wir natörlich auch dabei. Können ihre CDs im Hintergrund spielen lassen bei den Info-Ständen vom Kultur-in-Milon-Abo und so. Klingt doch klasse? Bares kommt nicht so viel röber, wohl so zwischen 50- und 70.000 Tacken. Ömmerhin. Oder? Was sagst du? Bist du noch dran?“
„Klar bin ich dran. Ich sitze schon seit heute Morgen wie auf Kohlen. Aber ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen, Chrischi! Wirklich klasse eingetötet hast du das. Denen werden reihenweise die Kinnladen runterfallen, wenn wir so auftrumpfen. Chrischi, das ist einfach genial! Am besten du rufst Alessa, Maggi und Hanna gleich selbst an. Die warten bestimmt sehnsüchtig auf ein Zeichen von dir!“
ER freute sich wahrhaftig. Es lief gut für sie.
„Ja, klar, das mach ich gleich. Ich freu mich so, dass das geklappt hat und bin so erleichtert. Dieser Ölien kann uns jetzt nicht mehr abschieben. Jetzt geben wir den Kors an, wohin unser Boot steuert“, jodelte Chrischi fröhlich.
„Ja, der kann uns jetzt nix mehr… Ein Jahr Ruhe und gute Arbeit werden wir leisten können mit dem Budget. Dann wünsch ich dir jetzt noch ein schönes wohlverdientes Wochenende, Chrischi! Größe an den Freund unbekannter bekannter Weise. Und Danke, Chrischi!“, verabschiedete ER das Gespräch.
Ja, er konnte es kaum glauben. Sie hatten es tatsächlich geschafft! Nur noch die Präsentation am Dienstag. Wie gut! Wie erleichtert er war.
Er dachte an Miri, sorry, Miriam. Am Sonntag wollte er ihr eine Mail schreiben. Schreiben konnte er besser als reden, jedenfalls etwas.
Er dachte an seine Freundin und die Laune schlug langsam wieder um. Er wollte nach Hause und doch nicht.
Da kam ihm ein rettender Gedanke. Auf dem Rückweg hielt er bei einem früheren Kumpel an und holte sich ein bisschen Gras. Er setzte sich auf eine Bank in den kleinen Park vor dessen Haus, drehte sich einen kleinen Joint und rauchte.
„Was ist Illusion?“ Diese Frage schwang in seinem Kopf.
War Illusion das, was er gerade sah oder das, was er nicht sah? Traum. Wirklichkeit. Die herbstlichen Bäume, der Wind in den Blättern, die Frau, die mit ihrem rostigen Einkaufswagen vorbeischluffte und ihm zuzwinkerte. Sie war gar nicht so alt. Jünger, älter, so alt wie er selbst, mittelalt. Schwer zu sagen. Das war eindeutig eine Illusion, denn bei näherem Hinsehen war sie gar nicht da, die Bäume schon, aber die Farben waren anders. Der Wind lauter und viele Vogelstimmen. Sie mussten vorher auch schon dagewesen sein. Das Gänseblümchen blühte noch, wie fleißig!
Er ging hin und streichelte es.
Entzückend! Ja, die Natur war real. Sie war keine Illusion. Illusionen entstanden mit den Gedanken. Den Gedanken der Menschen. Mit seinen Gedanken. Seine Arbeit, seine Freundin, seine Tochter, all seinen Beziehungen, Illusionen? Tochter ist Tochter. Arbeit sollte Freude bereiten… Vollkommene Illusion! Würde er das alles schaffen… Ebenfalls Illusion.
Wieder ein Zuzwinkern. Wieder verschwunden.
Er musste unwillkürlich lachen über seine Illusionen.
Das Gänseblümchen zwinkerte ihm im Grunde auch zu, wenn er es recht freundlich besah und die Blätter umtanzten ihn ebenso freundlich, wenn er sich darüber freute.
Ja, es gab sie, die schönen Illusionen.
Es gab sie, die Illusionen, die man sich einredete, damit das Leben erträglicher wurde. Die vergaß man nur immer, wenn es einem nicht gut ging.
Nach gefühlten fünf Minuten, welche anderthalb Stunden gewesen waren, auch eine Illusion, stand er wieder auf und fuhr langsam zurück nach Adlerfelde, einem Nest am Rande von Milon. Sie wohnten gleich in der ersten kurzen Seitenstraße nach dem Ortsschild links, Sackgasse, mit nur ihrem Haus, Doppelhaushälfte, Nachbarn nie da, Felder auf der einen und eine Wiese auf der anderen Seite. Dahinter begann versteckt die eigentliche Siedlung, wo er noch nie war, was ihn auch noch nie interessiert hatte, weil es da nichts weiter gab, außer Wohnhäusern. Sie besaßen ein kleines Grundstück, praktisch angelegt, leicht zu pflegen, keine Bäume, Wiese, mähen, fertig.
Das war historisch so gewachsen. Seine Freundin wollte nur gerade Linien, sachlich, durchgestylt, kontrollierbar, was sonst. Also wurde der Garten begradigt. Alles stylte sie durch nach den neuesten Moden der Zeit.
Sie wollte eigentlich einen Steingarten, grauer Schieferbruch mit einer gestylten japanischen XXL-Bonsai-Schwarzkiefer. Praktisch, insektenfrei, modern. Noch konnte er es abwenden.
Vor drei Jahren war seine Tochter ausgezogen und seine Freundin eingezogen. Fliegender Wechsel. Der eigentliche Grund: Er mochte nicht allein sein. Er hatte sie quasi überredet, damals.
Sie wollte nicht raus in die Pampa, tat es ihm zuliebe, was er auch fast jeden Tag mindestens dreimal zu hören bekam. Sie war eine Stadt- und Szenefrau, modern, hipp, frech.
Sie saß in der zum Wohnzimmer offenen Küche an ihrem Laptop mit einem Latte Macchiato auf der rechten Seite, in den sie nervös Amaretti tunkte, und auf der linken Bio-Dinkel-Käse-Kürbiskern-Knäcke, das zum Dippen in Bärlauchfrischkäse bereitstand.
„Ah, Frau Dip! Chrischi hat es geschafft! Wir haben gezaubert und werden Milon samt Kultur-Abo durchboxen können“, erzählte ER gleich sachlich, ohne auf ihren beleidigten Blick einzugehen.
„Schön für euch. Dann dürfte deine Stimmung ja wieder besser zu ertragen sein“, war ihr einziger Kommentar. ER ignorierte die Spitze, grinste und setzte sich ins Wohnzimmer, um ein bisschen zu zappen. Sie hasste es, wenn er sie „Frau Dip“ nannte, erst recht mit diesem spöttischen Grinsen im Gesicht.
„Von wegen wir. Als hättest du groß was dazu beigetragen“, keifte sie ihm aus der Küche zu.
„Ist doch egal wer – die Hauptsache ist, dass unsere Abteilung weiterbesteht, so wie sie ist.“
ER ließ sich nicht provozieren.
„Wie ich es gesagt hatte, ohne mich und diesen Mitarbeiter hättest du deine Mitarbeiter nicht retten können. Das ist wirklich armselig.“ Sie war offensichtlich in fieser Stichellaune.
ER zuckte mit den Schultern und drehte die Lautstärke höher. Sportschau. Prima. Punktlandung.
„Mehr hast du nicht zu erzählen?“ Sie stand auf.
„Hab alles gesagt.“ Er sah weiter auf den Flatscreen.
„Eben nicht! Hast du alles schwarz auf weiß? Unterschrieben? Wie sehen die Verträge aus? Gibt es etwas, das ich wissen muss wegen MMM? Ich hab immerhin am Mittwoch einen Termin dort. Da wäre es bestimmt hilfreich, wenn ich Genaueres weiß“, bohrte sie weiter.
„Da gibt es nichts, was euren Kontakt betreffen könnte. Betrifft nur MMM, Milon und MAIS. Und alles Weitere wird sich nach und nach klären. Von Wheelstars erzähl ich ein anderes Mal, habe jetzt keine Lust,“ antwortete er und sah dabei auf den Bildschirm. Er erhöhte die Lautstärke um einen kleinen Punkt. Sie um drei Punkte.
„Du bist den ganzen Tag weg und hast jetzt keine Lust zu erzählen! Das sieht dir ähnlich. Hast wieder gekifft und tust einen auf cool wie ein Teeny und genauso pubertär!“ Ihr Tonfall schlug einen bedrohlichen Ton an.
„Sieh mich wenigstens an, wenn ich mit dir rede!“, insistierte sie weiter.
„Du solltest auch mal einen Joint rauchen, dann wärst du deutlich entspannter, Sweetie!“, grinste er sie kurz an und sah alsgleich wieder zur Bundesliga-Tabelle. Da hatte er sie schlichtweg ausgeklinkt.
Sie stand neben ihm und schrie und zeterte und er nahm sie nicht wahr.
Verzweifelt, verletzt, wütend schritt sie auf ihn zu und stach ihn mit ihrem frisch lackierten pinkfarbenen Fingernagel des rechten Zeigefingers zwischen die Rippen.
Zack, haute er die Hand weg.
„Spinnst du?“, schrie er sie an und verfolgte gleich wieder entspannt die Fußballergebnisse.
„Ich geh jetzt! Ich geh!“, rief sie vollkommen außer sich.
„Mir doch egal“, sagte ER. Er sah sie kurz an:
„Dein Nagellack passt nicht zu deiner Gesichtsfarbe.“
„Ich gehe! Ich meine es ernst“, wiederholte sie, als würde sie hoffen, dass er sich innerhalb der nächsten Sekunde um 180 Grad änderte. Hoffnungslos.
„Ja, vergiss nichts.“ Das war zu viel für sie. Sie hatte ihn schon oft deprimiert erlebt, frustriert, schlecht gelaunt, aber so gleichgültig, abweisend, ignorant und dabei auch noch fröhlich abweisend, das war schlimmer als ein Schlag ins Gesicht. Sie versuchte krampfhaft, sich selbst wieder unter Kontrolle zu bekommen, unterdrückte die gekränkten Tränen.
„Und ich komme auch nicht wieder!“ Sie gab noch nicht auf.
„Prima.“ Die Tabelle der zweiten Liga.
„Warum lässt du mich einfach so gehen?“ Sie stand da, wie ein kleines verlassenes Mädchen, fassungslos.
„Weil mir alles egal ist. Einfach alles.“
„Auch wenn ich nicht mehr wieder komme, nie mehr?“ Sie schluchzte und wackelte mit dem Kopf hin und her.
„Ist mir egal. Dann hab ich wenigstens hier meine Ruhe.“ Er zog sich eine Flips-Tüte ran und fing an zu knabbern.
Sie atmete tief durch.
„Na gut! Die sollst du haben.“
Nach zehn Minuten schlug die Haustür zu und ihr Stadtflitzer in quietschrosa quietschte davon.
Jetzt realisierte er, was geschehen war, goss sich zufrieden einen Whisky ein und schlief nach zwei Stunden vor dem laufenden Fernseher ein.
Den Sonntag über blieb er den ganzen Tag in Schlafklamotten, unrasiert und bewegte sich nur vom Bett zur Küche, zum Fernseher und wieder zurück. Manchmal saß er nur so da und starrte ins Nichts. Nichts war auch in seinem Kopf.
Nichts tun, für nichts und niemanden, nichts denken, nichts fühlen. Er wollte im Prinzip auch nicht da sein, nun, jedenfalls nicht hier. Aber wo, das wusste er auch nicht. Ein Irgendwo, das er nicht kannte, nur nicht hier, wo all diese Erwartungen ihn erdrückten.
Montag. Das erste Mal seit ewig, dass er keinen Traum hatte, an den er sich erinnerte. Nur das lähmende Gefühl wurde immer stärker.
Allein einen Fuß vor den anderen zu setzen raubte ihm sämtliche Kraft.
Bäcker, Stau, Kernarbeitszeit. Wie anstrengend! Schreibtisch, Tür zu. Ihre kleine Abteilung war eine rettende Insel. Er bräuchte dringend eine größere rettende Insel. Seine Lebensgeister kehrten allmählich in ihn zurück.
Chrischi kam zu ihm ins Büro:
„Da bist du ja! Morgen werden wir feiern! Ich bin jetzt schon in Partylaune. Höy, was ist mit dir? Hast du schon dorchgezecht? Ohne uns? Nicht rasiert? Keine Zensur von Sweetie? Was ist los bei euch? War Sweetie nicht da?“
„Ne, sie ist abgehauen. Weiß nicht wo sie ist. Ist mir auch egal“, sagte ER gleichmütig und zuckte mit seinen Schultern.
„Das scheint dir wörklich egal zu sein. So konnte das ja auch nicht weitergehen. Wahrscheinlich ist es besser so. Mal eine Zeit Pause voneinander. Dann geht ihr euch nicht mehr so auf die Nörven“, meinte Chrischi einfühlsam.
„Sie nervt, sobald sie den Mund aufmacht. Ich wünschte, sie würde auf ewig verschwinden. Es ist viel besser so. Ich mag nur nicht allein sein. Das ist das Ding. Da fehlt halt irgendwas, irgendwer. Nur nicht sie. Sie soll auf keinen Fall mehr wiederkommen, nie mehr!“, wehrte er mit seiner Hand energisch ab.
„Ihr seid ja auch so onterschiedlich. Ihr habt euch nie wörklich ergänzt, nur gegenseitig blockiert. Jetzt bist du frei, Tanderadei!“
„Genau und jetzt volle Konzentration auf unseren morgigen Triumphzug!“ Das Zucken der Augenbraue mit einem gleichzeitigen Augenrollen, hieß auch Alessa zu ihnen Platz zu nehmen.
Die Vorab-Verträge trudelten ein und sie studierten noch einmal alle Unterlagen, Pläne, Prognosen, Statistiken bis kurz vor Mitternacht.
Die Nacht war wirr. Er war bei seiner Frisörin, Frau Su. Sie sah zwar nicht so aus, war es aber trotzdem. Sie schnitt ihm die Haare und rasierte ihn sogar, er trug nämlich einen langen Bart. „Alter Bart muss ab, Herr ER“, sagte sie. „So Sie werden neue Freiheit kennenlernen. Wird guttun, Herr ER. Ungewohnt, neue Freiheit. Viel Kraft wird frei.“
Dann schob sie ihn plötzlich quer durch den Laden direkt vor einen bodenlangen Spiegel. Er erschrak, denn sein Spiegelbild, das ihn von dort ansah, war nicht er selbst. Dieses lachte und zog sein Gesicht ab wie eine Maske, doch es veränderte sich nichts. ER stand auf und sprang auf sein Spiegelbild zu und landete auf der anderen Seite auf einer Wiese. Schafe grasten zufrieden vor sich hin. ER setzte sich an einen Baum und winkte seinem Spiegelbild zu. ER sah sehr zufrieden aus.
ER wachte früh auf, stand auf und schaltete die Kaffeemaschine an. Die hatte sie gar nicht mitgenommen, es war ihre. Naja, sie würde wiederkommen und sie holen. Möglichst, wenn er im Büro war. Er wollte sie nicht sehen und schon gar nicht mit ihr diskutieren. Sollte sie doch alles nehmen, was sie wollte. Nur das Haus war seins. Das hatte er sich nach der Scheidung gekauft. Sie hatten eine Wohnung in der Stadt, die hatten sie aufgelöst. Seine Ex ist in den Norden und seine Tochter wollte zu ihm. Passte gut, weil gerade Schulwechsel war.
Diese Träume raubten ihm seine letzte Kraft, und das war nicht mehr viel. Er hatte das Gefühl, die ganze Nacht aktiv gewesen zu sein. Sie hinterließen stets ein beklemmendes Gefühl. Alles war sonderbar, eben nicht fassbar. Dieses Gefühl hielt oft lange bis in den Tag hinein an. Machte ihn noch deprimierter, lustloser, antriebslos, lähmte ihn.
Auch jetzt, obwohl er das erste Mal, seit er denken konnte, im Traum gelacht hatte und zufrieden schien. Trotzdem, auch das befremdete ihn, sogar noch mehr.
Was das immer alles sollte? Vielleicht sollte er mal einen Psychiater aufsuchen, der ihm das erklären konnte. Ja. Ein Psychiater. Er wollte endlich mal wieder ganz entspannt durchschlafen ohne skurrile Träume.
Im Haus war es sehr ruhig. Radio wollte er nicht hören. Er setzte sich vor den Fernseher, Frühstücksfernsehen. Das hatte sie immer gehasst. Er liebte es.
Er fuhr sehr zeitig los. Trotzdem Kommentare:
„Kernarbeitszeit ist Kernarbeitszeit! Heute sind Sie zu früh ER.“
Diese Person, konnte der nicht einfach mal seinen Mund halten? Am besten gar nicht mehr auf diesem Flur erscheinen?
Alle waren sie früher heute wegen der dritten Präsentation des Wirtschaftsplanes, des Magazins für den nächsten Monat sowie der neuen Sponsoren.
„Auffi, in die Höhle des Löwen!“, rief Chrischi frohgelaunt. „Sieh dir mal Alessa an! Ihr Anblick hat mir glatt die Sprache verschlagen!“
ER ging in ihr Büro mit fünf Schreibtischen. Alessa lächelte kokett, stand auf, lief ein paar Schritte auf dem Laufsteg hin und her und setzte sich dann wieder kokett.
„Wow, beeindruckend! Du bist ein völlig anderer Typ! Er wird dir das Futter aus den Händen fressen wollen!“, sagte ER schwer beeindruckt von seiner Mitarbeiterin, die sonst eher konsequent die sportliche und natürliche Type war und heute im knallroten Kostüm, roten High Heels, geschminkt und frech frisiert erschien. Sogar ihre Fingernägel hatte sie knallrot lackiert.
„Donnerwetter! Du bist der absolote Hammer! Wenn ich nicht schon meinen Freund hätte, käm ich glatt in Versochung, zum anderen Ofer zu wechseln. Aber vielleicht steht meinem Schatz ja auch was Rotes. Also mich haut diese Farbe schlichtweg om“, meinte Chrischi begeistert, klatschte sich auf die Oberschenkel und gluckste.
„Dann wollen wir mal. Wir wollen schon vor den anderen im Meetingraum sitzen und sie empfangen und einen nach dem anderen von oben bis unten mustern, so, wie dieser Herr Möchtegern es immer schamlos mit uns getan hat.“
ER war fest entschlossen. Das freute alle und spornte sie noch mehr an.
Gesagt, getan. Es lief wie geplant. Die Musterungen, perfekt. Vor allem, als Herr Dr. Schwarzenegger hereinstolzierte, Alessa ihn schamlos beäugte und dann grinste, als sie in der Mitte seines Körpers angelangt war. Das brachte ihn vollkommen aus dem Konzept, was genau eine Stunde anhielt, genau die Zeit, die sie brauchten, um alle Zahlen und Pläne ungestört vorzutragen.
Schwarzenegger nickte immer wieder wie ein Wackeldackel und sagte nichts. Er hatte offensichtlich in keinster Weise mit diesem Ergebnis gerechnet und war mit alledem völlig überrumpelt.
Er nahm alles anstandslos hin. Man hörte sogar ein verstohlenes:
„Beeindruckende Leistung“, und ein:
„Wenn alle von MAIS solch ein Engagement zeigen würden, dann wäre ich ohne Job.“
Doch genau eine Minute nach jener legendären Stunde taute der Fiesling wieder auf und haute doch noch eine Keule rein.
„Alles schön und gut, aber dieser Schnarchverein braucht einen neuen Anstrich. Das traurige Kultur-Käseblatt gehört übergepinselt. Und zwar in Ergänzung zum neuen CD-Blau von Milon dieses wundervolle Rot aus Ihrem Kostüm, Frau Schimmelreiter.
Außerdem fliegen die seit Jahren künstlich aufgeblasenen Konzert-, Theater- und Ausstellungs-Vorschauen aus dem Magazin raus. Diesen tristen Teil liest doch sowieso keine Sau und kostet nur. Viel zu viele Buchstaben! Dafür mehr Farbe, mehr Fotos. Weg mit dem Mief. Verjüngt werden muss dieses Käseblatt. Ein paar hübsche Ladies müssen auf den Titel, natürlich in Rot. Nicht diese Grufties von verstorbenen Komponisten, Malern, Schriftstellern aus dem letzten Jahrtausend. Wir peppen das Ganze mal ein bisschen auf. Jetzt, wo das Geld da ist, soll es ja auch sinnvoll eingesetzt werden. So, das wärs. Ich muss zum nächsten Meeting in den K5.“
Herr Dr. Schwarzenegger stand auf. Kurz vor der Tür kam noch die zeitliche Vorgabe, natürlich megaknapp:
„Sie können uns ja in zwei Wochen schon mal erste Entwürfe samt Kosten vorlegen. Genauen Termin machst du, Michi, du hast ja meinen Plan, nicht wahr, Schnäuzelchen?“
Klatsch, hatte Michaela Erhard wieder einen Klaps auf ihrem extra prallen Hintern. Was tat Frau nicht alles…
Der Spuk war zu Ende.
Die drei saßen und verdauten.
„War doch gut, naja, das wird schon, glaub ich, geht ja nicht anders. Ach nö! Unser geliebtes Heft. Wie sagen wir das nur den Abonnenten, keine ausführlichen Informationen mehr? Die arbeiten doch damit, streichen alles genau an, was sie sehen wollen, wollen genau wissen, welcher Komponist, genauste Stöckbezeichnung, welches Orchester, welcher Dirigent, welche Solisten. Und die genausten Hintergründe zu den Theaterstücken, samt Lebensläufen der Besetzung. Und bei den Ausstellungen wollen sie auch genau wissen, welche Öntention der Könstler mit seinen Werken verfolgte, damit sie kommen, um ebendies genaustens zu pröfen und mit ihresgleichen über all dies zu philosophören und ihr Wissen auszutauschen…und und und. Ach nö, musste das denn jetzt sein? Es reicht nun wirklich, was wir geleistet haben. Manno!“, zeterte Chrischi vor sich hin.
ER fühlte sich nach diesen Höhenflugminuten als wäre er gegen eine unsichtbare Wand geprallt und schmierte gerade langsam daran ab. Er rappelte sich mühsam zusammen.
„Lasst uns rüber. Wir haben ein neues Jahr gewonnen. Das wollten wir erreichen und das haben wir erreicht. Das Magazin, da setzen wir uns in einer Stunde mal alle im Büro zusammen und bereden alles. Es war klar, dass was kommen würde, wen wundert es? Es wäre eine Illusion, wenn alles so bliebe wie es ist. Kommt, wir gehen.“
Sie standen auf und gingen erhobenen Hauptes durch die Transparenz auf ihre Büroinsel.
Auf dem Gang sagte ER:
„Das habt ihr prima gemacht. Das war ein genialer Auftritt, den ihr da hingezaubert habt. Der war unschlagbar und ist mit keinem anderen Auftritt zu toppen. Ich bin stolz auf solch ein Team! Danke.“
„Auch danke, Chöf!“, zwinkerte Chrischi und gab ihm einen Stups mit dem Ellenbogen und Alessa meinte:
„Ja, du warst aber auch unschlagbar, Chöf. Danke fürs Kompliment. Das tut gut.“
Als sie ins Büro kamen, trafen sie auf eine leicht panisch aussehende Maggi.
„Du sollst in der Miloner Uni-Klinik zurückrufen. Irgendwas mit deiner Freundin. Sie haben mir natürlich nichts gesagt. Und wie war es? Haben wir es geschafft?“, sagte sie und reichte ER mit zitternder Hand einen gelben Post-it mit Telefonnummer.
„Alles geklappt, ja. Nur das Heft, da fordert er Änderungen, die uns nicht so gefallen. Die beiden werden euch alles erzählen. Ich geh mal nach nebenan“, sagte ER ruhig, hob seine Augenbraue und verschwand in sein Büro.
Uni-Klinik Milon. Was bedeutete das? Sie hatte sich doch nicht etwa was angetan? Ein Unfall?
„Universitäts-Klinikum Milon, guten Tag“, sagte eine freundliche Dame am Telefon.
„Moment, ich verbinde mit dem leitenden Arzt der Intensivstation.“
ER fühlte Unheil.
„Wir bedauern, Ihnen eine traurige Nachricht mitteilen zu müssen. Sie ist vor einer halben Stunde an den Folgen eines schweren Autounfalls verstorben. Es war nichts mehr zu machen.“
„Unfall? Wie? Wo? Wann?“, stammelte ER.
„Vor etwa eineinhalb Stunden auf der B 373 Richtung Adlerfelde. Kein anderes Auto war beteiligt. Gerade Strecke. Von der Spur abgekommen. Man vermutet, sie war mit dem Handy zugange. Man hat es gefunden mit einer angefangenen Nachricht… an Sie. Tut mir leid. Hat sie nähere Verwandte?“
„Nein, ihre Eltern sind verstorben, hatte weder Kinder noch Geschwister.“
„Übernehmen Sie dann alles Weitere?“
„Ja. Na klar. Ich brauche ein paar Minuten, ein paar Minuten. Dann komme ich.“
„Gut. Lassen Sie sich Zeit und nehmen Sie sich ein Taxi.“
ER saß wie gelähmt.
Zack, weg war sie.
Weg aus seinem Leben. Gestern noch dachte er das. Doch aber nicht so! Das war furchtbar! Sie war auf dem Weg zu ihm gewesen. Aber sie wusste ja, dass er nicht zu Hause war. Sie wollte sicher ihre Kaffeemaschine. Sie kannte den Zeitpunkt seines wichtigen Meetings heute.
„Oh Mann, so doch nicht! So hab ich das doch nicht gemeint!“, rief er laut und vergrub sein Gesicht hinter seinen Händen.
Alle standen betroffen in der Tür. Sie hatten ihn gehört. Und ahnten.
Er sah hoch mit glasigem Blick:
„Sie ist weg. Tot. Ich muss ins Krankenhaus. Ich muss mich um alles kümmern. Danach komme ich wieder. Fangt bitte schon ohne mich an. Wir brauchen jede Minute für das Projekt. Die Zeit sitzt uns wieder im Nacken. Wir brauchen drei Varianten zum Vergleich, wenn wir wissen, was wir wollen. Fangt bitte schon mal an. Bitte. Tut mir leid, ich muss jetzt…“
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